Anne-Christin Hauschild
Professorin für Klinische Entscheidungsunterstützung an der Universität Göttingen
Die Medizin für wichtige Entscheidungen rüsten
Die Hierarchie ist klar: Über die Aktivität der Gene werden Eigenschaften von Zellen im Körper reguliert. Dann laufen etwa in Hautzellen nur Prozesse ab, die für die Haut relevant sind – und die Zellen der Bauchspeicheldrüse produzieren die passenden Hormone. Was in der Theorie so klar ist, lässt sich in der Praxis aber nur schwer aufdröseln. Zwar liefert die Bioinformatik mittlerweile extrem detaillierte Datensätze zu den sogenannten Genexpressionsdaten. Aber wie soll man diese gigantischen Datensätze auswerten, die vielen Nadeln im Heuhaufen finden, wie das Gen identifizieren, das für den Bauchspeicheldrüsenkrebs des Patienten verantwortlich ist?
„Um zu entscheiden, ob ein bestimmtes Gen relevant ist, müsste ich mir eine Excel-Tabelle mit 20.000 Spalten ansehen“, sagt die Medizininformatikerin Anne-Christin Hauschild: „Das geht natürlich nicht.“ Hauschild ist Juniorprofessorin am Institut für Medizinische Informatik der Universität Göttingen. Sie forscht zur personalisierten Medizin mit Hilfe maschineller Lernverfahren, mit deren Hilfe sie über 20.000 verschiedene Gene parallel analysieren kann.
Das ist nötig, weil Tumorerkrankungen höchst individuell sind. Der Oberbegriff „Brustkrebs“ beispielsweise umfasst unterschiedslos alle Tumorerkrankungen, die in diesem Körperteil auftreten – obwohl die genetische Ursache ganz unterschiedlich sein kann. Hauschild versucht herauszufinden, welche Gene –beispielsweise im Krebssubtyp 1 im Vergleich zu Krebssubtyp 2 aktiv oder sehr aktiv sind. Das müssen Behandelnde wissen, um etwa zu entscheiden, ob Subtyp 1 auf eine bestimmte Therapie anspricht oder zumindest ansprechen kann, die bei Subtyp 2 ganz sicher keine Wirkung haben wird.
In Deutschland werden in Fachkliniken oft sogenannte molekulare Tumor-Boards genutzt, für die genetische Analysen durchgeführt werden, um die beste Therapie für den Patienten zu finden. Diese Daten werden auch in Krebsregistern eingetragen, die inzwischen in vielen Bundesländern auf gesetzlicher Basis PatientInnenendaten sammeln. Weil Muster und Zusammenhänge manuell aber nur bedingt aufgespürt werden können, soll künftig Künstliche Intelligenz (KI) helfen. „In Kombination mit maschinellen Lernverfahren können diese Daten dann (noch viel besser?) als Entscheidungshilfe genutzt werden“, sagt Hauschild.
Wissen von Modellorganismen auf den Menschen übertragen
Hauschild wendet maschinelle Auswertungsmethoden auf ganz unterschiedliche Fragestellungen an. Aktuell entwickelt sie mit ihrem Team die Software SATL (Spezies Agnostisches Transfer Lernen), um medizinisches Wissen aus Studien zu Modellorganismen wie Mäusen, Ratten und Primaten auf den Menschen übertragen werden kann. Wenn Forschende etwa feststellen, dass eine Behandlung bei Mäusen mit einem bestimmten Krebssubtyp erfolgreich war, können sie bislang ohne medizinische Studien davon nicht ableiten, dass dieselbe Behandlung auch beim Menschen erfolgreich sein wird.
Der Wissenstransfer vom Modellorganismus zum Menschen ist oft schwierig, weil sich die Genexpression zwischen den Arten unterscheiden kann. Hauschild hat jetzt mit ihrem Team einen neuen Algorithmus entwickelt, der hilft, dieses Wissen zutreffender zu übertragen. Darüber hinaus müssen Ärztinnen und Ärzte allerdings bei kritischen Diagnosen und Therapieentscheidungen nachvollziehen können, warum das KI-System eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Dazu untersucht Hauschild im Projekt Clarus wie erklärende Methoden wie Integrated Gradients, die Entscheidungswege innerhalb komplexer KI-Methoden wie neuronalen Netze nachvollziehen können.
„Wir müssen sicherstellen, dass diese Algorithmen die richtigen Entscheidungen auf Basis der richtigen Parameter treffen“, sagt Hauschild. Ein Problem nach ihrer Ansicht: Manche Modelle treffen Entscheidungen auf der Basis von Parametern, die zwar korreliert seien, aber eigentlich keine kausale Rolle spielen sollten. Vor dem Einsatz in der Klinik müsse daher sichergestellt werden, dass die Algorithmen robust genug sind. Seit kurzem verpflichtet auch die europäische KI-Verordnung (AI Act) dazu, algorithmische Entscheidungsprozesse offenzulegen, also eine „erklärbare KI“ zu entwickeln.
Vereinheitlichung, Standardisierung, Integration für KI
In der Praxis beobachtet Anne-Christin Hauschild häufig, dass in Krankenhäusern unterschiedliche IT-Systeme eingesetzt werden, aber nicht gut zusammenarbeiten. Das erschwert die Verwendung und die Integration der Daten. Das Vereinheitlichen, Standardisieren von Daten hält sie daher für eine große Herausforderung – aber auch für eine Notwendigkeit, nicht zuletzt bei Kooperationen.
Im Projekt FairPact versucht die Medizininformatikerin, Daten zu Pankreaskrebs zwischen drei Universitätskliniken zu harmonisieren und für föderierte Lernalgorithmen zu nutzen. Dabei werden Modelle des maschinellen Lernens lokal trainiert und dann kombiniert, ohne die Daten selbst zu teilen. Die Entwicklung und Integration der Modelle sind machbar; das Hauptproblem besteht darin, die Daten aus verschiedenen Systemen an unterschiedlichen Kliniken harmonisiert zugänglich zu machen.
Aber der Einsatz wird sich lohnen: Behandelnde könnten dann stärker als heute auf KI-gestützte Entscheidungsunterstützungssysteme zurückgreifen: „Dies würde ihnen ein viel besseres Repertoire an Wissen bieten als ein Mensch allein haben kann“, glaubt Anne-Christin Hauschild. Insbesondere im Bereich der seltenen Krankheiten seien große Fortschritte zu erwarten. Idealerweise könnten sich Pflegekräfte und Behandelnde mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten nehmen und Fehler vermeiden, wenn sie von der KI auch in der zeitaufwändigen Dokumentation stärker unterstützt würden.
Warum funktioniert das so?
Personalisierte Medizin – nach dem Abitur stand das nicht auf der beruflichen Wunschliste von Anne-Christin Hauschild. Sie absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin für Anwendungsentwicklung, wenn auch nicht nur aus eigenem Antrieb: „Meine Eltern wollten, dass ich etwas ‚Vernünftiges‘ wie eine Ausbildung mache“, sagt sie. Das habe zwar Spaß gemacht, doch das Programmieren war ihr nicht genug: „Ich wollte verstehen, warum ein Algorithmus so implementiert wird. Ich wollte wissen, warum bestimmte Dinge so funktionieren.“
Sie entschied sich daher nach der Ausbildung für ein Studium in Bioinformatik in Saarbrücken. Als studentische Hilfskraft am Max-Planck-Institut für Informatik erhielt sie einen ersten Eindruck vom wissenschaftsnahen Arbeiten im Bereich Bioinformatik. Hauschild: „Anders als beim Software Engineering, wo man am Ende konkrete Anforderungen erfüllt, arbeitet man hier daran, Thesen zu testen.“
Während ihres Studiums besuchte Hauschild eine Vorlesung zum maschinellen Lernen, die für sie die Welt der KI eröffnete: „Der Hörsaal war voll, aber nach zwei Wochen waren nur noch etwa 30 bis 40 Studierende übrig, weil das Thema so komplex und arbeitsintensiv war. Aber ich fand es so faszinierend, dass ich es durchgezogen habe“, erinnert sie sich. Die Vorlesung erklärte die mathematischen Grundlagen der Algorithmen sowie deren mathematischen Beweise.
Hauschild fühlte sich an die Science-Fiction-Serie „Star Trek“ erinnert: „Diese unendlichen Möglichkeiten haben mich fasziniert.“ Das Potenzial der KI-Methoden inspiriert sie bis heute: „Man hat einen riesigen Raum voller Wissen und Informationen, die wir noch gar nicht kennen. Und nur die KI-Methoden ermöglichen uns, dieses Wissen daraus zu extrahieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen.“
Von der thematisch zur methodisch fokussierten Forschung
Bis zur Promotion 2016 an der Universität des Saarlandes befasste sich Anne-Christin Hauschild in ihren bioinformatischen Arbeiten mit der Lunge. Das änderte sich in ihrer Zeit im kanadischen Toronto nahezu schlagartig. Sie hatte am Princess Margaret Cancer Center und am Krembil Research Institute bereits über mehrere Monate nach einer neuen inhaltlichen Ausrichtung gesucht, ohne dass ein Funke übersprang, als sie Professor Daniel Müller amCenter for Addiction and Mental Health (CAMH) in Toronto kennenlernte, der ebenfalls an bioinformatischer Forschung mit maschinellem Lernen interessiert war.
„Mentorinnen und Mentoren spielen eine extrem wichtige Rolle“, sagt sie rückblickend. „Davor fühlte sich meine Arbeit oft wie Wissenschaft zum Selbstzweck an, was mir nicht liegt.“ Während eines Stipendiums am Center for Addiction and Mental Health, ebenfalls in Toronto, konnte sie sich auf die Frage konzentrieren, die sie seitdem umtreibt: Wie können sich Patientinnen und Patienten zusammen mit den Behandelnden für die richtige Therapie entscheiden? Hauschild: „Hier sah ich wieder einen klaren Sinn in meiner Arbeit – der mich bis heute motiviert.“
2018 kehrte sie nach Deutschland zurück, an die Universität Marburg. „Als Juniorgruppenleiterin habe ich gelernt, was es bedeutet, zu leiten, neue Projekte zu initiieren und Forschungsanträge zu schreiben – alles wichtige Fähigkeiten für eine Professur“, sagt sie. Seit 2021 ist sie Juniorprofessorin am Institut für Medizinische Informatik der Universität Göttingen.
Für Anne-Christin Hauschild steht fest: „Wir machen Wissenschaft nicht zum Selbstzweck, sondern weil wir etwas bewegen wollen. Wir wollen Teil der Revolution sein, die hin zur personalisierten Medizin führt, und dafür die richtigen Algorithmen in die Praxis bringen.“
Die dafür nötige wissenschaftliche Qualität kann nach Hauschilds Ansicht nur ein diverses Team mit starkem Teamgefühl liefern: „Wir haben eine hohe Frauenquote und viele internationale Studierende, weil verschiedene Blickwinkel das Team bereichern.“ Sie erinnert an die erste Version der Apple Health App, deren Entwickler übersehen hatten, dass Frauen auch Wert auf ein Angebot zur Periode legen könnten. Hauschild: „Das wäre nicht passiert, wenn mindestens eine Frau im Team gewesen wäre.“
Noch wichtiger findet Anne-Christin Hauschild es, als Professorin „Menschen zu helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten.“ Sie möchte auch mit einem demokratischen Führungsstil eine Atmosphäre schaffen, „in der alle gerne arbeiten und wissen, dass sie sich auf mich verlassen können. Ich treffe keine Entscheidungen von oben herab, sondern diskutiere sie im Team, um sicherzustellen, dass sie für alle gut sind.“ In der Wissenschaft gebe es oft Fehlschläge, manchmal habe ein Projekt nur wenig Impact. „Aber durch die Ausbildung motivierter und talentierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kann man einen viel größeren und vielleicht sogar nachhaltigeren Einfluss haben“, betont Hauschild.