Interview
Philipp Kanstinger:
Smart Sensing über dem
Meereshorizont
Zur Person
Dr. Philipp Kanstinger ist Meeresbiologe und in der Umweltschutzorganisation WWF zuständig für die Zertifizierung von Fisch und Meeresfrüchten. Im Rahmen der „Smart Fishing Initiative“ des WWF entwickelte er in Kooperation mit dem WWF-Fachbereich „Innovation, Sciences, Technologies & Solutions“ 2014 gemeinsam mit dem Unternehmen Navama ein KI-gestütztes Trackingtool zur Fernerkundung mit Satellitenbildern. Damit sollen Fischereiaktivitäten von Booten automatisiert entdeckt werden können. Begleitend dazu beteiligte sich Kanstinger an der partizipativen Datenaustauschplattform TransparentSea.org, auf der sich Fischereien seit 2012 registrieren und ihre Aktivitäten transparent darstellen können. Dies soll die Einhaltung von Fischereivorgaben unterstützen.
- Datenaustauschplattform TransparentSea.org, https://business.esa.int/projects/transparentsea
- Navama-Kooperation, https://www.wwf.eu/?uNewsID=236950
Essential
Philipp Kanstinger befasst sich im Rahmen der Zertifizierung von nachhaltigem Fischfang mit KI-gestützten digitalen Methoden, mit denen die Fangaktivitäten weltweit überwacht werden können. Der WWF arbeitet dazu mit Behörden, Universitäten und Fischern sowie dem Marine Stewardship Council (MSC), der Fischprodukten ein Nachhaltigkeitssiegel verleiht.
Mit KI-gestützten Verfahren können Satellitenbilder und AIS-Signale von Schiffen ausgewertet werden, um mutmaßlich illegale Fischeraktivitäten automatisiert entdecken zu können. Auch wenn AIS-Signale teilweise oder gar nicht gesendet werden, können die Aktivitäten weiterhin aus bildgebenden Verfahren und KI-gestützten Berechnungen abgeleitet werden. Die Kontrolle der Fischereiaktivitäten an Bord der Schiffe ist mit Smartphones und Videokameras möglich, wobei KIAuswertungsmethoden eine effizientere Kontrolle sowohl der Fangmethoden und des Fanginhalts wie auch der illegalen Rückwürfe unterstützen können. In Neuseeland ist bereits eine Videoüberwachung an Bord gesetzlich vorgeschrieben; entsprechende Regulierungsvorstöße gibt es auch in der Europäischen Union.
Die Bereitschaft von Fischern, mehr Transparenz herzustellen, hängt laut Kanstinger stark davon ab, ob sie selbst daraus Vorteile ziehen können. Diese könnten in einer einheitlicheren und besseren Durchsetzung gesetzlicher Vorgaben liegen, womit eine Umsetzung von Nachhaltigkeitsregeln wirtschaftlicher werden würde. Auch soziale Nachhaltigkeitsfragen könnten gezielter adressiert werden. Unter anderem könnten menschliche Fischereibeobachter auf hoher See dank KI-gestützter digitaler Überwachung besser gegen Übergriffe abgesichert werden. Zudem könnte die Digitalisierung ein transparenteres, partizipativ orientiertes Fischereimanagement befördern, das den Handel und die Fischer unmittelbar ökonomisch unterstützt. Allerdings müssen bei einer Rund-um-die-Uhr-Überwachung von Bordaktivitäten die Persönlichkeits- und Datenschutzrechte der Fischer geschützt bleiben.
Kanstinger spricht sich gegen eine Veröffentlichung der Rohdaten im Internet aus, da die KI-gestützte Auswertung noch zu fehlerbehaftet sei und zusätzlicher Auswertungsexpertise bedürfe. Er plädiert für eine einfachere Offenlegung von behördlichen Daten gegenüber Umweltschutzorganisationen.
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Interview
Smart Sensing über dem Meereshorizont
- Wenn wir im Laden Fisch kaufen, können wir uns bei einem Nachhaltigkeitssiegel wie dem des Marine Stewardship Council (MSC) darauf verlassen, dass wir nachhaltigen Fisch erhalten?
- Philipp Kanstinger: Wenn man einen MSC-zertifizierten Fisch kauft, kann man immer davon ausgehen, dass er aus einer legalen, rückverfolgbaren Quelle stammt. Das ist bei 30 Prozent der weltweiten Fischprodukte nicht der Fall. Dabei ist eine gute Rückverfolgbarkeit des Fangs die absolute Grundlage, um Nachhaltigkeit festzustellen. Das wird durch eine Produktkettenzertifizierung abgesichert, wobei der Fang vom Fangschiff bis zu den einzelnen Verarbeitern überprüft wird. Allerdings ist es schwierig zu beurteilen, ob der Fang tatsächlich nachhaltig ist.
- Wie meinen Sie das?
- Philipp Kanstinger: Das MSC-Siegel deckt ökologische Nachhaltigkeitsaspekte ab, nicht jedoch die komplette soziale und die ökonomische Nachhaltigkeit. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs) inklusive des WWF stellen bei einigen Fischereien höhere Anforderungen an Nachhaltigkeit: Sei es bei den Auswirkungen auf die Ökosysteme, das Fischereimanagement oder die Arbeitsrechte auf den Fangschiffen. Viele der MSC-zertifizierten Fischereien arbeiten nachhaltig, aber eben nicht alle aus der Perspektive von Umweltschützern.
- Wie kann einem Nachhaltigkeitssiegel mehr Substanz verliehen werden und welche Rolle spielt hierbei Künstliche Intelligenz?
- Philipp Kanstinger: Die MSC-Zertifizierung kann in der Hinsicht verbessert werden, dass Fischereiaktivitäten besser überwacht werden, wobei die Monitoring-Daten transparenter gemacht werden könnten. Dabei spielt Künstliche Intelligenz bereits in verschiedenen Teilbereichen eine Rolle. So können Umweltschutzorganisationen wie wir über das Automatische Identifikationssystem (AIS) feststellen, wo sich Schiffe aufhalten, und die AIS-Daten KI-unterstützt auswerten. Wir konnten viele illegale Aktivitäten feststellen und an die zuständigen Behörden weitermelden. In Einzelfällen wurden auch Konsequenzen bekannt.
- Wie funktioniert das Monitoring mit AIS-Signalen?
- Philipp Kanstinger: Das AIS dient primär dem Kollisionsschutz. Boote mit einer Größe von über 300 Gross tonnage (GT) müssen eine AISAnlage in internationalen Gewässern betreiben, in nationalen Gewässern gilt die Pflicht für etwas größere Boote. In Europa müssen alle Fischereiboote ab 15 Meter Länge damit ausgerüstet sein, in den USA ab 20 Meter. Dabei werden Schiffsdaten wie Position, Kurs, Geschwindigkeit, aber auch Schiffsname laufend gesendet. Nichtregierungsorganisationen wie wir können die AIS-Signale auswerten, wenn der AIS-Sender funktioniert. Wenn man das Boot als Fischerboot identifiziert hat, kann man dank KI feststellen, wann es anfängt zu fischen, da sich dann sein Bewegungsmuster ändert.
- Wie hat sich mit dem AIS-Monitoring die Beobachtungsarbeit verändert?
- Philipp Kanstinger: Die AIS-Signale haben enorm geholfen, die weltweite Fischerei besser zu kontrollieren und zu erkennen, welches Ausmaß legale und illegale Fischereiaktivitäten in bestimmten Gebieten annehmen. Wir können nachprüfen, ob Fischereiboote Meeresschutzgebiete meiden.
Wenn das AIS-Signal von der Karte verschwindet …
- Wie zwingend notwendig sind AIS-Signale, um Fischeraktivitäten zu erfassen, wenn KI auch die typischen Bewegungsmuster von Fischereibooten erkennen kann?
- Philipp Kanstinger: In Fällen, in denen das AIS-Signal ausgeschaltet oder manipuliert wird, lässt sich überprüfen, wann das AIS-Signal abgeschaltet wurde. Es lässt sich feststellen, ob das Gerät ausgefallen ist – was sehr selten vorkommt –, ob es absichtlich ausgestellt wurde oder ob es sich um ein Funkloch handelt, von dem auch andere Fischereibote betroffen sind. Über eine KI-gestützte Analyse kann man feststellen, ob die Schiffe im Umkreis noch AIS-Signale senden.
- Verwenden Sie in Fällen, in denen das AIS-Signal nicht mehr verfügbar ist, zusätzliche Datenquellen?
- Philipp Kanstinger: Wir können in der Nacht dank der Daten von Infrarot-Satelliten nach Beleuchtung auf den Meeren schauen. Viele Fischereien benutzen Leuchtfallen: Sie bestrahlen mit Licht die Meeresoberfläche, damit sich Fische dort sammeln, die sich abfangen lassen. Wenn man diese Daten des Satelliten nimmt, die Lichter identifiziert und mit den AIS-Signalen übereinanderlegt, kann man sehen, ob es Boote gibt, die das AIS-Signal nicht senden, was in internationalen Gewässern verboten wäre. Auf diese Weise könnte man den Anteil der illegalen Fischereiaktivitäten erkennen.
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- Gibt es erste Erfolge dieser Methode?
- Philipp Kanstinger: Mit dieser Analysemethode konnte über die Internetkarte von „Global Fishing Watch“ beispielsweise im Sommer 2020 eine große chinesische Fangflotte in den internationalen Gewässern unmittelbar vor den geschützten Meeresgebieten der Galapagos-Inseln entdeckt werden. Die Umweltorganisation Oceana brachte das an die Öffentlichkeit, das weltweite Medienaufsehen brachte China sogar politisch unter Druck.
- Auf der Karte von Global Fishing Watch werden die Boote unterschiedlich identifiziert. Wurden die Boote, die mit „apparent fishing effort“ und „Night Vessel Detection“ bezeichnet werden, mit einem KI-Algorithmus identifiziert?
- Philipp Kanstinger: Es gibt zwei verschiedene Daten-Layer auf der „Global Fishing Watch“-Karte. Zum einen gibt es die AIS-Signale, zum anderen die „Night Vessel Detection“ auf Basis von Infrarot- Daten. Der KI-Algorithmus wurde so trainiert, dass er automatisch, basierend auf den AIS-Signalen, mutmaßliche Fischereiaktivitäten identifiziert. Das Problem ist dabei, dass jedes Boot abhängig vom Fanggerät anders agiert. Die dort eingesetzte KI befindet sich allerdings noch in den Kinderschuhen. Ein geübter Beobachter könnte weitaus mehr oder besser als die KI erkennen, ob ein Boot fischt oder nicht.
Blick hinter den Horizont …
- Arbeiten Sie mit der Karte von „Global Fishing Watch“?
- Philipp Kanstinger: Ich benutze die Karte seit etwa drei Jahren. Sie funktioniert ähnlich wie das Navama-Tool, das wir entwickelt haben (Anm. d. Red.: siehe Projekt TransparentSea.org). Bei Global Fishing Watch besteht der Vorteil darin, dass die AIS-Daten bereits grafisch aufbereitet sind und die Nutzerschnittstelle sehr bedienungsfreundlich ist. Mit den Rohdaten, die wir über Navama bekommen, können wir aber weitergehende Analysen anstellen. So können wir zum Beispiel den Grundschleppnetz- Fußabdruck der gesamten Flotte in einem Jahr bestimmen. Mit der KI-Analyse wurde in der Fischereibeobachtung ein ganz neues Fenster aufgestoßen. Normalerweise verschwand das Schiff hinter dem Horizont, und dann wussten wir nicht mehr, wo es fischt oder ob es sich mit anderen Booten trifft und eventuell Fänge auf Frachtschiffe verlädt – das sogenannte Transshipment. Das ist jetzt global transparent geworden, was in den letzten Jahren einen unglaublichen Fortschritt in der Überwachung von international tätigen Fischereiflotten darstellt.
- Inwieweit hilft dieses Mehr an Transparenz nun bei der Bewertung von Nachhaltigkeit durch den MSC?
- Philipp Kanstinger: Jetzt sind Spezialanalysen möglich, wie etwa das Übereinanderlegen der Fischereiaktivität mit biologischen Daten von sensiblen oder bedrohten Meereshabitaten wie Tiefseekorallenriffen. Damit gibt es einen besseren Hebel, um auch neu entdeckte Habitate zu schützen. Möglicherweise agieren die Fischereien, die mit dem MSC zusammenarbeiten, dann in solchen Gebieten vorsichtiger. Sie haben sich ja dazu verpflichtet, transparent zu arbeiten und sensible Meereshabitate zu schonen.
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- Welche Rolle spielt hier der WWF?
- Philipp Kanstinger: Wir stellen beispielsweise AIS-Analysen zur Frage an, ob und wie viel MSC-zertifizierte Kabeljau-Fischereien mit Grundschleppnetzen in neu entdeckten Tiefseeschwammwäldern oder Korallengärten operieren. Mit diesen Daten gehen wir zum einen zu den MSC-Zertifizierungsbüros, die für die Fischereien zuständig sind, und versuchen diese zu überzeugen, dass die Fischerei neue Auflagen zum Schutz dieser Gebiete benötigt, um das MSC-Zertifikat zu behalten. Zum anderen sprechen wir direkt mit den Fischereien, um diese dazu zu bewegen, die sensibelsten Gebiete freiwillig zu vermeiden.
- Im Zuge des Klimawandels haben sich bereits traditionelle Routen von Fischschwärmen verändert. Müssen hier auch Kontroll- und Schutzmechanismen flexibler werden?
- Philipp Kanstinger: Greenpeace berichtete 2016 über eine MSC-zertifizierte Kabeljau-Fischerei, die mit ihren Flotten den Fischen in neuerdings eisfreie arktische Gewässer folgte. Aufgrund des Klimawandels hatten die Schwärme ihre üblichen Routen verlassen und sich weiter in Richtung Norden bewegt. Verschiedene Unternehmen und Fischereiflotten wie die russische und norwegische Flotte, aber auch zum Beispiel Iglo oder McDonald’s verpflichteten sich freiwillig, keinen Fisch mehr aus diesen neu erschlossenen Fischereigebieten zu beziehen. Aufgrund des Berichts kam das auf die politische Agenda und die norwegische Regierung beschloss, einige neue Gebiete für die Kabeljau-Fischerei zu schließen. Hier zeigt sich, dass es gut ist, dass neben den Behörden auch Nichtregierungsorganisationen die AIS-Daten auswerten.
„An der Schwelle zum technologischen Durchbruch“
- Wie zuverlässig sind die Ergebnisse der KI-gestützten AIS-Datenanalyse?
- Philipp Kanstinger: Die aktuelle KI-gestützte Auswertung der AIS-Muster von Global Fishing Watch hat noch eine hohe Fehlerquote. Daher ist es problematisch, sich mit diesen Daten an Behörden zu wenden, um eine mutmaßlich illegale Fischereiaktivität anzuzeigen. Der aktuell angewandte KI-Algorithmus stellt viele Regelverstöße fest, aber ein geübter Beobachter würde die Daten mitunter anders bewerten. So könnte er beispielsweise feststellen, dass es in der Nacht einen Sturm gab, weshalb das Boot unter Land fuhr, um sich vor den Wellen zu schützen. In der Bucht ist es dann langsam gekreuzt oder hat geankert. Die KI hingegen wird behaupten, dass das Boot in Küstennähe gefischt hat, was aber verboten sei. Aktuell gibt es noch keinen hinreichend genauen Automatismus, der die verschiedenen Faktoren bewerten könnte.
- An welcher Stelle der technologisch-regulatorischen Entwicklung stehen wir heute?
- Philipp Kanstinger: Wir stehen an der Schwelle zu einem technologischen Durchbruch. Vor 20 Jahren noch wusste wirklich niemand, was auf dem Meer passiert. Heute weiß man es. Mit den AIS-Signalen erkennt man die Schiffsbewegungen von oben, aber man weiß nicht, was das Boot fängt und welche Netze es benutzt. Der nächste Schritt wird daher sein, dass man auf den Booten Kameras installiert, womit KI-unterstützt erkannt werden kann, was und wie viel gefischt wird. Damit würde man den kompletten Durchblick erhalten, der enorm dabei helfen würde, ein faires Fischereimanagement auf die Beine zu stellen.
- Wie soll diese Überwachung auf den Booten erfolgen?
- Philipp Kanstinger: Fangmengen könnten über an Bord installierte Kameras besser kontrolliert werden. Mit Hilfe von KI ließe sich feststellen, wie groß der Fang ist und welche Arten gefangen wurden. Aus der Perspektive des Artenschutzes interessiert, wie viel Fisch gefangen wird und welche Arten sich darunter befinden. Es gab aber immer das Problem, dass der Fang im Hafen nicht komplett anlandet, wo er protokolliert werden könnte. Bereits auf hoher See wird ein Teil der Fänge zurückgeworfen. Diese Praxis, ungewollten Beifang tot über Bord zu werfen, ist seit einigen Jahren in der EU größtenteils verboten, wird aber weitverbreitet dennoch fortgeführt. Weil keine direkte Beobachtung möglich ist, ist keine Kontrolle möglich. Wenn man durchgängig auf allen Booten Kamerasysteme installieren würde, wäre das anders. Daher werden jetzt weltweit Kamerasysteme auf vielen Booten installiert.
- Aber wer soll diese tausenden Stunden von Video-Footage durchsehen und analysieren?
- Philipp Kanstinger: Mithilfe von KI könnte man die interessanten Videoabschnitte automatisiert identifizieren und so die Zeit, die man für die Betrachtung der Videos aufwenden müsste, stark reduzieren. Beispielsweise könnte automatisiert der Zeitpunkt erkannt werden, zu dem das Fangnetz hochkommt. Außerdem gibt es bereits Ansätze, automatisiert zu erkennen, wie viele Fische und welche Arten mit einem Fang herausgeholt werden.
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Wenn sich alle an die Regeln halten …
- Worin läge denn der Vorteil für die Fischer, mit solchen Projekten zu kooperieren?
- Philipp Kanstinger: Viele Fischer haben das Bedürfnis, frei zu sein. Sie haben einen harten, gefährlichen Job, was sich in vielen Persönlichkeiten von Fischern widerspiegelt. Vor etwa fünf Jahren stieß der Einsatz von AIS-Signalen daher noch auf sehr große Skepsis. Mit AIS verfügen sie aber nicht mehr über geheime Fischereigründe – und dann kommt noch eine Kamera dazu, die sie bei jeder Tätigkeit beobachtet. Doch die meisten Fischer wollen ehrlich und legal operieren. AIS ist heute eine etablierte Technologie und man weiß daher, wo der andere fischt. Fischer sind in der Gesellschaft häufig auch die Buhmänner und verlieren ihre soziale Glaubwürdigkeit. Viele aber machen einen sehr guten Job, was sie auch vorzeigen können, wenn sie transparent operieren und nachhaltig handeln.
- Würde das nicht das gesamte Fischereimanagement ändern?
- Philipp Kanstinger: Ein verbessertes Fischereimanagement, in dem jeder offen arbeitet und zeigt, wie viel er fängt und herausholt, ist ein guter Schritt Richtung Nachhaltigkeit. Wenn hingegen niemand die Rückwürfe der Beifänge kontrolliert, wäre ein Kapitän ganz schön dumm, darauf zu verzichten. Er erleidet ja einen finanziellen Verlust, Laderaum für Fische zur Verfügung zu stellen, die nicht viel wert sind und die er anlanden muss. Wenn all seine Kollegen die Beifänge über Bord werfen, weil es keiner kontrolliert – warum sollte er es dann nicht genauso machen? Aus diesem Grund sind die Fischer zumindest teilweise mit der digitalen Überwachung einverstanden, da sich dann alle an die Regeln halten müssen.
- Ihre Lösung wäre also eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Fischer?
- Philipp Kanstinger: Der Überwachungsaspekt ist nicht zu unterschätzen. Wir versuchen gerade auf EU-Ebene die Kamerasysteme an Bord zu etablieren, wobei Datenschutz ein großes Thema ist. Bei der Videoüberwachung muss man darauf achten, dass keine sensiblen Daten aufgenommen und die Persönlichkeitsrechte geachtet werden. Uns als NGO ist bewusst, dass wir uns mit unserem Plädoyer für mehr Überwachungskameras auf einem sensiblen Terrain bewegen. Daher ist es wichtig, gemeinsam mit den Fischern zu schauen, wo man diese Kameras installiert. Man will die Fischer ja nicht in der Pause, in ihrem privaten Bereich abbilden, sondern man möchte erfassen, wo der Fisch ankommt, wohin er transportiert wird und wo er aussortiert werden könnte.
Kooperation und Partizipation als Schlüssel zur Akzeptanz
- Ist die digitale Überwachung einzelner Boote nicht ein Luxus, den sich selbst Fischer in Industriestaaten nur knapp leisten können?
- Philipp Kanstinger: Vermutlich können alle in den nächsten zehn Jahren diese Technologie anwenden, weil die Preise für Überwachungskameras stark fallen. Noch sind sie teuer. In Großbritannien und Neuseeland springt daher die Regierung finanziell ein, um die ersten Fischereien damit auszurüsten. Es gibt aber auch funktionierende Low-Cost-Versuche mit Zeitraffer- Kameras. In Schwellenländern sind ja bereits 100 Dollar für eine Kamera eine größere Investition, weshalb es schwierig ist, die Menschen davon zu überzeugen. Die Vorteile müssen schon auf der Hand liegen, wie etwa ein besseres Datenmanagement, das darüber Auskunft gibt, wie viel Fisch wo zu finden ist.
- Was hat der einzelne Fischer von einem besseren Datenmanagement in der Lieferkette?
- Philipp Kanstinger: Das Fischereimanagement sollte partizipativ sein und die Fischer sollten in den Entscheidungen mitgenommen werden. Sehr hilfreich ist es, wenn sie erleben, dass ihre Informationen so ausgewertet werden, dass sie selbst davon etwas haben. Beispielsweise haben wir Projekte, bei denen sie von ihrem Fang ein Foto machen, das dann automatisch auf der Händlerplattform veröffentlicht wird. Der Händler oder auch die lokale Bevölkerung kann dann sehen, was heute gefangen worden ist, und entscheiden, wie viel sie für den Fang pro Kilogramm bieten wollen. Wenn die Fischer die Vorteile erleben, ist die Begeisterung groß, weil sie sehen, dass der Zusatzaufwand etwas bringt. Wenn sie aber nur Daten abliefern und nichts zurückbekommen würden, wäre es nur ein zusätzlicher Aufwand für ein eh schwieriges Leben.
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Brennpunkte sozialer Nachhaltigkeit identifizieren
- Inwieweit ließen sich Standards sozialer Nachhaltigkeit mit KI einführen und durchsetzen?
- Philipp Kanstinger: Die soziale Nachhaltigkeit wird von Zertifizierungen für Fischprodukte noch nicht systematisch abgeprüft. Die Fischerboote müssen mit dem MSC eine freiwillige Vereinbarung abschließen, dass sie keine Kinder und keine Sklaven an Bord haben. Aber es gibt keine Kontrolle, dass es Arbeitsverträge gibt. Mithilfe von KI könnte man zum Beispiel überprüfen, wie viel Tage ein Schiff ohne Unterbrechung auf See ist, und daraus Arbeitszeiten ableiten. Man könnte auch soziale Konflikte identifizieren, die daraus resultieren können, dass eine große Fischerei im Gebiet operiert, in dem sich auch viele kleine Fischer aufhalten. Hier gibt es noch starken Verbesserungsbedarf, wobei KI bei der Identifizierung möglicher Problempunkte helfen könnte.
- Das bedarf aber doch vor allem menschlicher Kontrolle. Besteht hier nicht die Gefahr, wenn ich mich nur noch auf die Daten verlasse, dass genau diese sozialen Aspekte der Nachhaltigkeit stärker vernachlässigt werden?
- Philipp Kanstinger: Es ist oftmals so, dass die menschlichen Beobachter auch hier nicht näher hinsehen. Der menschliche Beobachter auf den Fangschiffen gehört zu den miesesten Jobs, weil die Fischer gegen einen sind. Die Beobachter werden häufig aus Schwellenländern rekrutiert und erhalten ein eher niedriges Gehalt. In den letzten Jahren sind viele Morde passiert, Beobachter auf hoher See verschwunden. Hier gibt es Abgründe. Eine KI, die man nicht bestechen kann, wäre schon ein großer Vorteil.
Technologisches Wettrüsten
- Läutet der Einsatz von KI-unterstütztem Tracking nicht auch ein technologisches Wettrüsten ein?
- Philipp Kanstinger: In der Fischerei gibt es seit Langem ein digitales Wettrüsten. Mit stündlich aktualisierten Satellitendaten beispielsweise lassen sich die Areale, in denen sich Fisch wahrscheinlich aufhalten wird, mittels Chlorophyllmengen erkennen. Die Thunfischfischereien operieren mit Schwimmbojen, sogenannten „fish aggregation devices“. Ein Boot hält 400 bis 500 solcher autonomen Bojen. Wie Mausefallen schwimmen sie mit Fischsonar, GPS und Kameras herum und locken Fischschwärme an, die das Boot dann einsammeln kann.
- Können nicht auch große Fischereiunternehmen mit KITechniken noch effizienter im Sinne der Profitmaximierung agieren und damit das Aussterben vieler Fischarten beschleunigen?
- Philipp Kanstinger: Dieses Wettrüsten wird weitergehen. Die Kapazitäten der Fischereiboote wachsen und die Aufklärungstechnik verbessert sich dank Satelliten zunehmend. Die Datenanalyse ist jetzt das neue große Ding. In den 1950er-Jahren waren es Kunststoffe wie Nylon, womit die Fischereigeräte leichter wurden und womit man dann größere Areale abfischen konnte. In den 60ern und 70ern war es das Fischsonar, womit man Fischschwärme unter Wasser finden konnte. Kleine Fischer haben häufig bei dem technologischen Wettrüsten das Nachsehen, da sie ihre Technik nur geringfügig verbessern können.
Optimierung auf Artenerhaltung
- Inwieweit kann KI nun nachhaltiges Fischen unterstützen, statt zu einem immer effizienteren Fischen zu führen?
- Philipp Kanstinger: Mit KI kann der Fang analysiert werden und bedrohte Arten können zusammen mit der Fangmenge entdeckt werden. Damit ließen sich dann bestimmte Gebiete, die für den Nachwuchs wichtig sind, automatisch erfassen. Beispielsweise finden sich in der Langleinen-Fischerei vor Madagaskar immer juvenile Seidenhaie. Entsprechend müsste man dieses Gebiet vor der Langleinenfischerei schützen. Theoretisch wäre also viel möglich.
- Wenn bedrohte Arten automatisch detektiert werden können, wächst dann nicht auch die Versuchung für die Fischerei, die Kamera auszuschalten und entsprechende Daten zu löschen, um Fanggebiete nicht zu gefährden?
- Philipp Kanstinger: Die Überwachung muss automatisiert werden und es darf nicht sein, dass die Daten dann gelöscht werden. Aktuell sind diese Daten in den meisten Fällen vertraulich, wobei Regierungsbehörden Zugriff erhalten. Doch Regierungen funktionieren in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich gut, weshalb wir uns eine vollständige Transparenz wünschen. In Europa haben auf viele Daten nur Behörden Zugriff, die dann auf Basis von Anfragen nach Informationsfreiheitsgesetzen uns anonymisiert zur Auswertung zur Verfügung gestellt werden können. Es ist uns möglich, die AIS-ähnlichen VMS-Daten zu erhalten, doch es ist sehr aufwändig. Die Aufzeichnung von Videodaten auf Booten wurde in Europa bis auf wenige Ausnahmen bislang nicht umgesetzt. Neuseeland hat dies als erstes Land gesetzlich vorgeschrieben, dort gibt es auch einige Fischereien, die das schon länger praktizieren.
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„Naming and Shaming“ als Risiko
- Wie sind die Erfahrungen mit Videoüberwachung?
- Philipp Kanstinger: Auch in Neuseeland sind diese Videodaten für uns nicht unmittelbar zugänglich. Vor einigen Jahren kam es zu einem Skandal. Als „vertraulich“ eingestufte Regierungsdokumente zeigten, dass auf Videomaterial der illegale Fang bedrohter Arten dokumentiert worden war, was zunächst aber geheim gehalten und nicht geahndet worden war. Nach einer offiziellen Untersuchung durch die Behörden wurde jedoch mehr Transparenz in die Vorgänge gebracht.1 Andererseits gibt es auch das Risiko des „Naming and Shaming“, also dass Leute im Internet aufgrund von falsch interpretierten Daten an den Pranger gestellt werden.
- Wie gehen Sie mit diesem Risiko in Ihrer Arbeit um?
- Philipp Kanstinger: Das Navama-Tool und TransparentSea.org funktionieren ähnlich wie „Global Fishing Watch“, doch wir haben uns von Anfang an dazu entschlossen, die Daten nicht der Allgemeinheit über einen offenen Login-Account zur Verfügung zu stellen. Wir sind der Ansicht, dass die Datenanalyse zu kompliziert ist und wir nicht mitverantwortlich sein wollen für dieses „Naming and Shaming“. Wir werden die Daten nur nutzen, wenn wir detaillierte Beweise haben, dass etwas Illegales geschehen ist.
Perspektiven KI-gestützter Fischerei-Analyse
- Wie weit entwickelt sind die bisherigen KI-gestützten Analysen?
- Philipp Kanstinger: Die KI für die Auswertung von Fischereiabfällen ist noch ein Nischenthema, aber wir nutzen zum Beispiel Entwicklungen der automatisierten Gesichtserkennung und entwickeln diese dann für die globale Fischerei weiter, indem wir den KI-Modellen beibringen, Fischarten auseinanderzuhalten. Noch wird in diesem Bereich nicht viel Geld investiert. Wie bei jedem KI-Algorithmus besteht das Problem darin, dass die Trainingsdatensätze richtig gut sein müssen. Es kostet sehr viel Geld, genügend gute Beispiele detailliert zu sammeln. Aus der Meeresbiologie ist die KI für automatische Erfassung von Lebewesen schon jetzt nicht mehr wegzudenken. Insbesondere bei der Identifizierung von Tieren unter Wasser im Bereich von Plankton hat KI die Datensätze revolutioniert.
- Inwiefern?
- Philipp Kanstinger: Bislang wurden mit feinmaschigen Netzen Proben genommen und die gesammelten Planktonarten von Wissenschaftlern bestimmt und gezählt. Neuerdings werden sogenannte Video Plankton Recorder (VPR) eingesetzt. Das sind Unterwasser-Video-Mikroskope, die von Schiffen hinterhergezogen werden und die in Echtzeit Plankton zählen und bestimmen. In der Fischerei ist es die AIS-Technik, wobei KI in den nächsten Jahren die Analyse von AIS-Datensätzen enorm verbessern wird – ähnlich wie bei der Kamera-unterstützten Fangerfassung. Beispielsweise kann über einem Fließband eine Kamera installiert werden, die die Fische einzeln erfasst. Auf Fischereibooten hingegen ist die KI noch nicht gut genug, um die Fische detailliert genug zu erfassen, da hier geschaufelt und schnell durchsortiert wird.
- Brauchen wir eine neue Art der Supervision, um mit den Ergebnissen der neuen Erfassungsmethoden und -techniken richtig umzugehen?
- Philipp Kanstinger: Ich setze auf ein globales Netzwerk. In meiner Arbeit arbeiten wir auf hoher See in internationalen Gewässern, wo es sehr wenige wirkliche Regeln gibt. Eine Kontrollinstanz ist dort sehr wichtig, die es aber noch nicht ausreichend gibt. Es gibt regionale Fischer-Organisationen, wie etwa die International Commission for the Conservation of Atlantic Tunas (ICCAT), die in manchen Meeresgebieten eine Art Mini-UNO darstellen. In internationalen Gewässern sind auch menschliche Beobachter auf den Booten, was aber jetzt in Corona-Zeiten nicht mehr möglich ist. Digitale Daten wären da eine sinnvolle Ergänzung. Doch klar ist auch: Wenn immer mehr Daten gesammelt werden, wächst auch die Gefahr des Missbrauchs: Wer hat Zugriff auf die Daten, was wird mit ihnen gemacht?
- 1) Ministry for Primary Industries (2016): Independent review of prosecution decisions, https://www.mpi.govt.nz/law-and-policy/legal-overviews/fisheries/independent-review-of-prosecution-decisions
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Projekt
TransparentSea.org
Fischereien können sich auf der Internetplattform TransparentSea.org freiwillig registrieren, um ihre Aktivitäten auf See zu dokumentieren. Damit können sie nachweisen, dass sie geschützte Meeresgebiete meiden und nachhaltige Fangpraktiken einhalten. Hierfür spenden sie die Daten ihres Automatischen Identifizierungssystems (AIS), welche Aufschluss über Routen und Fahrgeschwindigkeiten geben. Die Daten werden mit weiteren Daten aus Schiffsüberwachungssystemen kombiniert. Die Ergebnisse der Analysen werden mit den Fischereien geteilt.
Ziel ist es, das Fischereimanagement weltweit über mehr Transparenz zu verbessern. Anders als bei „Global Fishing Watch“ sollen illegale Fischereiaktivitäten damit nicht aufgedeckt werden. 2013 erklärte sich das Thunfisch-Fangunternehmen Sea Quest bereit, seine Fangtätigkeiten um Fidschi im Südpazifik vollumfänglich überwachen und bewerten zu lassen. Einer der für den europäischen Markt wichtigsten Thunfischdosenproduzenten, die Bolton Alimentari Gruppe, lässt seine global operierende Fangflotte inzwischen durch TransparentSea überwachen, um so für mehr Transparenz und Nachverfolgbarkeit für Konsumenten zu sorgen. Weltweit gibt es bisher nur sehr wenige Unternehmen, die freiwillig diesen Schritt zu mehr Transparenz wagen.
Literatur
Gale, F., Ascui, F. un Lovell, H. (2017): Sensing reality? New monitoring technologies for global sustainability standards, Global environmental politics, vol. 17, no. 2 , S. 65-83 , https://www.mitpressjournals.org/doi/full/10.1162/GLEP_a_00401
Bakker, K. and Max Ritts (2018): Smart Earth: A meta-review and implications for environmental governance, Global Environmental Change-human and Policy Dimensions 52, S. 201-211, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0959378017313730
Global Fishing Watch, https://globalfishingwatch.org
WWF Neuseeland: Blockchain-Projekt zur Rückverfolgung von Thunfisch-Lieferketten, https://www.wwf.org.nz/what_we_do/marine/blockchain_tuna_project/
WWF Großbritannien 2017: Remote electronic Monitoring, Why camera technology is a cost-effective and robust solution to improving UK fisheries management, https://www.wwf.org.uk/sites/default/files/2017-10/Remote%20Electronic%20Monitoring%20in%20UK%20Fisheries%20Management_WWF.pdf
WWF Neuseeland 2019: Embracing cameras on fishing boats will be game-changing, https://www.wwf.org.nz/?16221/Embracing-cameras-on-fishing-boats-will-be-game-changing
WWF Neuseeland 2019: Freiwillige Live-Videoüberwachung von Fangaktivitäten an Bord mit KI-gestützter Identifizierung der gefangenen Fischarten in Neuseeland, https://www.wwf.org.nz/what_we_do/marine/sustainable_fisheries/better_fishing/
WWF Chile 2020: Smartphone technology improves the quality and quantity of fisheries data in Chile, https://www.worldwildlife.org/projects/smartphone-technology-improves-the-quality-and-quantity-of-fisheries-data-in-chile
Greenpeace 2016: This far, no further: Protect the Arctic from destructive trawling, https://storage.googleapis.com/planet4-international-stateless/2016/03/d0798385-this-far-no-further.pdf
Römer, J. (2020): Riesige Fischfangflotte vor Südamerika: Chinas Beutezug, 19.9.2020, Der Spiegel, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/galapagos-riesige-fischfang-flotte-aus-china-entsetzt-ecuador-a-cc2c6086-6dab-4c4d-9d1c-f2dba813cae8
Gibbens, S. (2019): Slave labor is used to catch fish: This tech aims to stop it, 13.9.2019, National Geographic, https://www.nationalgeographic.com/environment/2019/06/slave-labor-used-to-catch-fish-but-tech-may-help/
Das Interview mit Philipp Kanstinger führte die Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragten Publikationsprojektes zum Thema „KI und Nachhaltigkeit“. Die vollständige Publikation steht als PDF zum Download zur Verfügung.