Interview

Kerstin Fritzsche:

Suche nach transformativen

Hebeln der Digitalisierung

Zur Person

Kerstin Fritzsche leitet seit Juni 2020 den Forschungsbereich Digitalisierung am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin. In dieser Funktion koordiniert sie das Verbundvorhaben „CO:DINA – Transformationsroadmap Digitalisierung und Nachhaltigkeit“. Sie forscht zu den Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für sozial-ökologische Transformationsprozesse und beschäftigte sich mit Fragen der Gestaltung und Governance einer nachhaltigen Digitalisierung. Kerstin Fritzsche studierte Politikwissenschaften, Arabistik und Journalistik an der Universität Leipzig und der Universität Stockholm.

Essential

Digitale Technologien werden oftmals als Mittel verstanden, um die Komplexität des Systems Erde besser zu durchdringen und darauf aufbauend steuernd eingreifen zu können. Mit KI könne zwar der Einblick in systemische Zusammenhänge verbessert werden, so Kerstin Fritzsche, gleichwohl sei die Annahme, alle Wirkungszusammenhänge verstehen zu können, zu hoch gegriffen, da es weiterhin blinde Flecke geben werde, durch die Unsicherheiten entstehen. Für die Zukunftsforschung können sich datengetriebene Ansätze und qualitative wie auch partizipative Forschungsmethoden jedoch gegenseitig ergänzen. Dadurch können Handlungsoptionen erarbeitet werden, die helfen, sich besser auf unterschiedliche Zukünfte vorzubereiten. Die notwendigen Entscheidungen im Umgang mit unsicheren Zukünften blieben jedoch weiterhin Aufgabe des Menschen.

Viele öffentliche Institutionen verfügen laut Fritzsche bereits heute über umfangreiche Datensätze, die für gemeinwohl- und nachhaltigkeitsorientierte Zwecke eingesetzt werden könnten. Um diese Potenziale jedoch zu heben, brauche es neue Kompetenzen, Strukturen und Prozesse in Ministerien, Ämtern und Behörden. Die Verwendung von Daten, die im öffentlichen Raum erzeugt werden, ist ein weiteres wichtiges Thema. Damit diese der Allgemeinheit dienen, müssten beispielsweise Kommunen Modelle für die lokale Datengovernance entwickeln und implementieren, die regeln, wer welche Daten zu welchem Zweck nutzen dürfe. Auch auf europäischer Ebene wachse das Bewusstsein, dass es den Einsatz digitaler Technologien, einer Risikoabschätzung sowie einer KI-Regulierung brauche, wobei die Verbindung mit ökologischen Zielen eine wachsende Rolle spiele. Generell müsse der Einsatz digitaler Technologien in seiner Wirkung systemisch betrachtet werden, um festzustellen, was sich durch die Digitalisierung beziehungsweise KI mit Blick auf Nachhaltigkeit grundlegend ändere. Dies sei Bestandteil des Projekts CO:DINA, das eine Transformationsroadmap für eine nachhaltige Digitalisierung erarbeiten soll.

Interview

Suche nach transformativen Hebeln der Digitalisierung

  • Zielvorgaben zur Klimaneutralität oder zum Erhalt der Biodiversität sind zukunftsorientiert, die Künstliche Intelligenz aber lernt von Ist-Daten. Es sind neue Dynamiken zu erwarten, bei denen Ist- und Vergangenheitsdaten möglicherweise nicht mehr genügen. Inwieweit stellt das für die Zukunftsforschung eine Herausforderung dar?
  • Kerstin Fritzsche: Wie kann uns Künstliche Intelligenz in der Zukunftsforschung unterstützen? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns am IZT gerade sehr intensiv. Aus unserer Sicht können uns KI und die Analyse großer Datensätze zum Beispiel dabei helfen, das Bild für mögliche zukünftige Entwicklungen facettenreicher zu gestalten und Muster sowie Zusammenhänge besser zu erkennen. Mittels KIgestützter Datenanalysen können neue Datensätze für die Zukunfts- und Trendforschung erschlossen werden, dazu gehören etwa Daten aus sozialen Medien. Die Herausforderung besteht darin, diese Technologien wirklich sinnvoll und zielgerichtet für die Zukunfts- und Trendanalyse einzusetzen und zu vermeiden, dass sie einen Bias verstärken oder gar erzeugen.
  • Was sagt die KI über die Zukunft?
  • Kerstin Fritzsche: Es ist wichtig, genau zu verstehen, was digitale Technologien leisten können und wie man die Ergebnisse daraus interpretiert und nutzt. KI-basierte Zukunftsprognostik ist keine Glaskugel, die uns die Zukunft vorhersagt. Die Zukunft bleibt weiterhin ungewiss – aber wir können versuchen, möglichst breite und diverse Wissensbestände und Informationen einzubeziehen, um uns auf unterschiedliche mögliche Zukünfte vorzubereiten. Daher schließen sich aus unserer Sicht datengetriebene Ansätze der Zukunftsanalytik und qualitative beziehungsweise partizipative Methoden der Zukunftsforschung, etwa der Einbezug von Experten und Expertinnen oder Stakeholdern, nicht aus. Im Gegenteil, diese können sich vielmehr ergänzen und helfen, ihre Schwächen gegenseitig zu kompensieren.
  • Was bedeutet das für Politikentscheider?
  • Kerstin Fritzsche: Datengetriebene Analysen können eine Unterstützung dafür sein, potenzielle Wirkungen von Maßnahmen im Vorfeld besser abzuschätzen und Strategien zu entwickeln. Auch können sie genutzt werden, um Ansätze zu erarbeiten, die selbst unter den unterschiedlichsten Rahmenbedingungen aller Voraussicht nach positive Effekte generieren werden. Im Bereich der Anpassung an den Klimawandel spricht man von sogenannten No-regret-measures, also Maßnahmen, die man nicht bereuen wird. Politische Entscheider oder auch andere Akteure müssen sich jedoch im Klaren darüber sein, dass ihnen kein noch so ausgefeiltes System eine Entscheidung über eine Maßnahme abnehmen kann. Das wäre auch unter demokratischen Gesichtspunkten sehr problematisch. Interpretieren, Schlüsse ziehen, Entscheidungen treffen und Maßnahmen verantworten – das bleibt weiterhin die Aufgabe des Menschen.
  • Es reicht also nicht, nur genügend Daten und KI-Tools zu entwickeln, um die Klimakrise einzudämmen und das Artensterben aufzuhalten?
  • Kerstin Fritzsche: Meine Wahrnehmung ist, dass, wenn es um die Potenziale von digitalen Technologien, vor allem um KI geht, oftmals die Vorstellung besteht, die Welt mit ihrer Hilfe enträtseln zu können: Wenn wir nur genug Daten erheben und genug Informationen miteinander verknüpfen, können wir die Komplexität des Systems Erde durchdringen und es nach unseren Vorstellungen steuern und beeinflussen. Ich schätze an dieser Ambition zwar den systemischen Grundgedanken, also das Verständnis, dass wir keine voneinander losgelösten Systeme haben, dass Umwelt, Technik und Gesellschaft nicht nebeneinanderstehen, sondern eng miteinander verwoben sind und Wechselwirkungen entfalten. Allerdings erscheint es mir auch etwas vermessen anzunehmen, das feingliedrige Räderwerk unserer Welt in all seinen Wirkungszusammenhängen verstehen zu können.

Der Einblick in dieses Räderwerk wird dank Digitalisierung sicherlich ein gutes Stück präziser. Werden diese Erkenntnisse richtig interpretiert und klug genutzt, können sie dabei helfen, nachhaltiger mit unserem Planeten umzugehen. Aber wir sollten nicht die Demut vor der Komplexität verlieren. Es wird weiterhin blinde Flecken geben, wo Unsicherheiten entstehen werden – und mit diesen müssen wir trotz KI und Co. umzugehen lernen.

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Menschenzentrierte KI für Nachhaltigkeitszwecke

  • Könnte es hilfreich sein, verstärkt darüber nachzudenken, wie man KI-gestützt die Kooperation von Menschen verbessert, damit diese nachhaltiger handeln können? Im Grunde nutzen Social-Media-Unternehmen soziale Mechanismen für ihre eigene Wertschöpfung. Bestünde die nächste Herausforderung darin, kooperative Technologien so zu entwickeln, dass sie in den Bereichen, in denen es um die Verbesserung von Nachhaltigkeit geht, stärker zum Einsatz kommen?
  • Kerstin Fritzsche: Das ist ein wichtiger Punkt. Digitale Technologien, auch KI, werden heute schon von vielen Menschen eingesetzt, um Nachhaltigkeit zu fördern. Wir sehen aber auch, dass Digitalisierung nicht-nachhaltige Lebensweisen verstärken kann und dass dafür eben genau soziale Mechanismen ausgenutzt werden. Denken Sie etwa an die Influencer-Branche – da wird die Strahlkraft von einzelnen Personen gezielt genutzt, um Produkte zu bewerben und so andere zum Konsum zu motivieren.

Technologien entstehen ja aber nicht aus sich selbst heraus – ihnen muss durch den Menschen ein Sinn verliehen werden. Die Kombination aus technologischen Möglichkeiten und menschlichen Eigenheiten kann gewinnbringend für Nachhaltigkeit eingesetzt werden: Gemeinsam mit dem gamelab.berlin der Humboldt Universität Berlin tauschen wir uns aktuell dazu aus, wie die Freude der Menschen am gemeinsamen Spielen dafür genutzt werden kann, sie zu nachhaltigeren Verhaltensweisen oder Maßnahmen zum Umweltschutz zu animieren. Solche Hebel für eine nachhaltige Ausrichtung unserer Gesellschaft gilt es zu identifizieren. Daher ist dies auch eine der Kernthesen unseres KI-Leuchtturmvorhabens CO:DINA, in dem wir eine Transformationsroadmap für eine nachhaltige Digitalisierung erarbeiten.

Gemeinwohlorientierte Datengovernance-Modelle

  • Daten, so heißt es oft, haben für den Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit eine hohe Bedeutung. Wie sehen Sie die Rolle öffentlicher Institutionen, Daten gemeinwohlorientiert einzusetzen?
  • Kerstin Fritzsche: Viele Ministerien und andere öffentliche Einrichtungen sitzen auf einem wahren Datenschatz, aus dem sich wichtige Erkenntnisse für nachhaltigere Lebens- und Wirtschaftsweisen und den Schutz der Umwelt generieren lassen. Die Frage ist vor allem, wie Verwaltungen, Behörden, Ministerien so fit gemacht werden können, dass sie diese Potenziale heben können. Dazu gehört es auf der einen Seite zu verstehen, was daten- und KI-basierte Tools wirklich leisten können und wo ihre Grenzen sind. Zudem müssen auf der anderen Seite öffentliche Institutionen auch die Ergebnisse auswerten und interpretieren können, um sie zielgerichtet beispielsweise in Planungs- und Steuerungsprozessen einzusetzen. Das erfordert ein ganz neues Set an Kompetenzen und Fähigkeiten von öffentlichen Einrichtungen.
  • In welchen Bereichen wäre so ein Kompetenzausbau aus Ihrer Sicht noch wichtig?
  • Kerstin Fritzsche: Ganz klar auf der kommunalen Ebene – hier ist das Thema Smart City seit einigen Jahren sehr präsent. Dabei geht es unter anderem um bessere Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger, etwa die Möglichkeit, Behördengänge komplett online abzuwickeln. Aber es geht auch mehr und mehr um Daten, die im öffentlichen Raum erzeugt werden, und um die Frage, von wem und wozu diese genutzt werden dürfen. Im Bereich der Mobilität ließe sich durch Daten beispielsweise ein knappes Gut besser managen: Parkflächen. Viele Kommunen sehen sich jedoch privaten Anbietern gegenüber, die agiler und versierter im Umgang mit Daten und daher zum einen Konkurrent als auch Kooperationspartner sind. Hier braucht es ein Modell für die lokale Datengovernance, also Regeln und Verfahrensweisen im Umgang mit den auf kommunaler Ebene erzeugten Daten, das dafür sorgt, dass deren Nutzung nachhaltigkeits- und gemeinwohlorientiert ist. Um einen derartigen Rahmen zu schaffen, brauchen Kommunen entsprechende digitale Kompetenzen.
  • Wo stehen wir da Moment?
  • Kerstin Fritzsche: Sicher nicht mehr komplett am Anfang. Die Herausforderung ist aufseiten der Kommunen sehr wohl erkannt. Vor ihnen liegt jedoch noch ein gutes Stück Weg, denn allein der Aufbau entsprechender Kapazitäten und Expertise ist oftmals schwierig. Das kann an so einfachen Dingen hängen wie etwa, dass für ausgeschriebene Stellen mit Digitalisierungsbezug keine oder erst nach langer Suche geeignete Kandidaten und Kandidatinnen gefunden werden. Auch verlangt es den Verwaltungen selbst oftmals viel ab, den internen Wandlungsprozess, den die Digitalisierung von ihnen fordert, zu meistern. Aber ich denke, das Bewusstsein und der Wunsch seitens der Kommunen sind da, Digitalisierung gemeinwohlorientiert und nachhaltig für ihre Bürgerinnen und Bürger einzusetzen. Mit dieser Motivation kann man eine ganze Menge anstellen.
  • Wie könnten Unternehmen ihre ökologische Nachhaltigkeit energischer verfolgen?
  • Kerstin Fritzsche: Ich würde mir einen stärkeren Mut vor allem von großen, finanzkräftigen Unternehmen wünschen, eigene Geschäftsmodelle zu hinterfragen und zu überlegen, wie sie einen größeren Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise leisten können. Beispielsweise untersuchen Wissenschaftler der TU Berlin und der Beuth Hochschule für Technik in Berlin gemeinsam mit den Betreibern der Suchmaschine Ecosia in einem anderen KI-Leuchtturmvorhaben des Bundesumweltministeriums, wie ein „Green Consumption Assistant“, also ein Helfer für nachhaltigen Konsum, Nutzer und Nutzerinnen dabei unterstützen kann, nachhaltigkeitsorientierte Konsumentscheidungen zu treffen.1 Das ist die richtige Denkweise: Digitale Geschäftsmodelle konsequent an Nachhaltigkeit ausrichten!

Nachhaltigkeit als Frage digitaler Souveränität

  • Der WBGU fordert, dass Staaten fähig sein müssen, die Digitalisierung nachhaltig zu gestalten. Aber wenn es um den unmittelbaren Energieverbrauch von Hardware und Plattformdiensten geht, sind die Gestaltungsmöglichkeiten begrenzt, weil diese vornehmlich in den USA und Asien designt und produziert werden. In welchen Themenbereichen ist Europa mit Blick auf KI gestaltungsfähig?
  • Kerstin Fritzsche: Das ist eine zentrale Frage, mit der sich nicht nur Deutschland beispielsweise im Rahmen der umweltpolitischen Digitalagenda des BMU, sondern auch die Europäische Union verstärkt beschäftigt. In Bezug auf die Digitalisierung und besonders auf die Künstliche Intelligenz gibt es sehr engagierte Debatten, wie diese entsprechend europäischen Werten und im Sinne eines menschenzentrierten Ansatzes gestaltet werden können. Was das jenseits eines starken Datenschutzes und ethischer Überlegungen bedeutet, ist jedoch noch nicht komplett ausbuchstabiert. Vonseiten der EU-Kommission wurde für das erste Quartal 2021 ein Entwurf für ein zukünftiges KI-Gesetz angekündigt. Es wächst also das Bewusstsein, dass es Regulierung und auch eine Risikoabschätzung braucht, um Vertrauen, Akzeptanz und Rechtssicherheit in Bezug auf diese neuen Technologien zu schaffen. Mehr und mehr spielt auch die Verbindung mit ökologischen Zielen eine große Rolle.
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  • Damit ändert sich aber noch nichts an der technologischen Abhängigkeit von Technologieimporten.
  • Kerstin Fritzsche: Das stimmt, allerdings ist digitale Souveränität auch nicht gleichzusetzen mit Autarkie. Souverän ist auch, wer etwa Anforderungen an das Design von IKT-Produkten stellt, die auf dem eigenen Markt verkauft werden. Vereinfacht gesagt ist es aktuell ja so: In den USA werden die Technologien entworfen, in asiatischen Ländern mit einem hohen Anteil von Kohlestrom hergestellt. Damit haben Handys, Laptops und andere Geräte, die in Deutschland und Europa gekauft und genutzt werden, per se bereits einen hohen ökologischen Fußabdruck. Eine Greenpeace-Studie hat vor einigen Jahren gezeigt, dass in der Produktions- und Vertriebsphase von Handys bereits knapp 80 Prozent ihres gesamten CO2-Fußabdrucks anfallen und damit der Anteil aus der Nutzungsphase nur einen relativ geringen Anteil hat.2 Noch dazu hängt dieser vom genutzten Strommix ab, also ob beispielsweise Strom aus erneuerbaren Energien zum Aufladen des Handys genutzt wird oder nicht. Aufgrund der energie- und ressourcenintensiven Produktion ist es wichtig, digitale Geräte möglichst lange zu nutzen, zu reparieren oder auch weiterzuverkaufen. Und genau hier kann die EU regulativ ansetzen.
  • Welche Ansatzpunkte gibt es, digitale Endgeräte nachhaltiger zu gestalten?
  • Kerstin Fritzsche: Ein Ansatzpunkt besteht darin, Gütekriterien für digitale Endgeräte oder auch Software vorzugeben, die ökologische, aber auch soziale Standards berücksichtigen. Im neuen Aktionsplan für Kreislaufwirtschaft der Europäischen Kommission wird angekündigt, die ökologische Gestaltung digitaler Technologien, wie etwa Handys, Tablets oder Computer, perspektivisch im Rahmen der Öko-Design-Richtlinie zu regeln. Dazu gehört das wichtige Thema Reparierbarkeit von digitalen Endgeräten, aber auch Energieeffizienz, Haltbarkeit, Wiederverwertbarkeit und die Möglichkeit, Geräte einfacher aufzurüsten. Das wäre ein großer Schritt, den ökologischen Fußabdruck der Digitalisierung zu reduzieren und die Hersteller entsprechend in die Pflicht zu nehmen, ihre Produkte nachhaltiger zu designen.
  • Wie kann KI für Nachhaltigkeit eingesetzt werden?
  • Kerstin Fritzsche: Überall da, wo wir große, komplexe Systeme – etwa das Verkehrs- oder auch das Energiesystem – besser verstehen müssen, um sie wirkungsvoll und nachhaltiger zu steuern, kann KI helfen, Muster zu erkennen, auf deren Basis Lösungen erarbeitet werden können. Allerdings haben KI-Systeme selbst einen hohen Energiebedarf. Der Einsatz von digitalen Technologien muss in seiner Wirkung immer systemisch betrachtet werden. Dazu gehört auch, sich ganz grundsätzlich die Frage zu stellen: Was ändert sich durch Digitalisierung und durch die Künstliche Intelligenz denn wirklich grundlegend? Dieser Frage, neben vielen anderen, gehen wir in unserem KI-Leuchtturmvorhaben CO:DINA nach. Nur wenn man darauf eine Antwort findet und die systemischen Wirkungen von KI versteht, so unsere Ausgangsthese, kann man die Hebel für eine nachhaltige Digitalisierung wirksam bedienen lernen.
  • Summa summarum gibt es also einige Ansatzpunkte, an denen Europa jetzt etwas tun kann?
  • Kerstin Fritzsche: Natürlich, Europa hat eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Digitalisierung nachhaltig zu gestalten. Doch es ist wichtig, diese auch beherzt auf mehreren Ebenen anzugehen: Wir müssen die Transformation hin zu Nachhaltigkeit im Großen voranbringen durch entschlossene Politik etwa für die Erreichung ambitionierter Klimaschutzziele. Nachhaltige Digitalisierung braucht ein nachhaltiges Energiesystem – und umgekehrt. Gleichzeitig müssen digitale Technologien und Geschäftsmodelle konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden. Nutzerinnen und Nutzer müssen zudem dafür sensibilisiert werden – und vor allem die Möglichkeit haben –, ihre Geräte möglichst lange zu verwenden und beispielsweise zu reparieren. Hier braucht es die richtige Rahmensetzung durch die Politik, um nachhaltigkeitsorientiertes Verhalten zu ermöglichen und zu fördern. Auch ist es wichtig, dass gesamtgesellschaftlich nicht-nachhaltige Konsum- und Lebensweisen hinterfragt und Zukunftsbilder für digitale Nachhaltigkeitsgesellschaften entwickelt werden. Eine Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit wird es nicht geben ohne einen gesellschaftlichen Wandel, der diese Veränderungen einfordert.
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Projekt

CO:DINA

Das Verbundvorhaben „CO:DINA – Transformationsroadmap Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ vernetzt Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um neue strategische Stoßrichtungen für eine sozialökologische Digitalisierung zu identifizieren. Das Projekt entwickelt Lösungsansätze, die der Komplexität der Digitalisierung sowie grundlegenden Fragen zur Künstlichen Intelligenz gerecht werden sollen.

Dies ist eng verbunden mit der Frage, wie umweltbezogene Regulierung und Ordnungspolitik an den dynamischen Veränderungen der Digitalisierung neu ausgerichtet werden können. Das Projekt identifiziert Forschungslücken, betrachtet Wechselwirkungen zwi- schen Digitalisierung und Nachhaltigkeit und damit verbundene Potenziale wie auch Probleme und entwickelt Lösungsansätze für die Umweltpolitik. Dafür knüpft das Vorhaben das bestehende Netzwerk zwischen der Nachhaltigkeitsszene und der Tech-Community weiter und bindet neue Wissensträger und -trägerinnen ein. Zudem werden neue Ansätze für die Analyse der sozialen und ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung entwickelt. Die Ergebnisse des Vorhabens werden in einer Transformationsroadmap zusammengeführt, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dabei unterstützen soll, zentrale Weichenstellungen für eine nachhaltige Digitalisierung vorzunehmen. Vielversprechende Handlungsoptionen werden in sogenannten „Transformation Policy Labs“ als Prototypen entwickelt und getestet.

Das vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) im Rahmen der KI-Leuchtturminitiative von 2020 bis 2023 geförderte Projekt wird gemeinsam vom IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie umgesetzt.

Literatur

Sühlmann-Faul, F., Rammler, S. (2018): Der blinde Fleck der Digitalisierung. Wie sich Nachhaltigkeit und digitale Transformationen in Einklang bringen lassen. München: oekom Verlag.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2019): Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Zusammenfassung. Berlin: WBGU. Online verfügbar unter: https://www.wbgu.de

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation. Berlin: WBGU. Online verfügbar unter: https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation

Das Interview mit Kerstin Fritzsche führte die Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragten Publikationsprojektes zum Thema „KI und Nachhaltigkeit“. Die vollständige Publikation steht als PDF zum Download zur Verfügung.