Interview

Julia Arlinghaus:

Den Widerspruch zwischen

Effizienz, Flexibilität und

Nachhaltigkeit auflösen

Zur Person

Julia Arlinghaus ist Expertin für Industrie 4.0 und für die Optimierung von Produktions- und Logistiksystemen. 2021 wurde sie vom Bundespräsidenten in den Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland berufen. Hier berät sie Bund und Länder in wissenschaftspolitischen Entscheidungsprozessen. Julia Arlinghaus leitet das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg und ist Lehrstuhlinhaberin für Produktionssysteme und -automatisierung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von 2017 bis 2019 war Julia Arlinghaus Lehrstuhlinhaberin für das Management für Industrie 4.0 an der RWTH Aachen. Zuvor war sie von 2013 bis 2017 Professorin für die Optimierung von Produktions- und Logistiknetzwerken an der Jacobs University Bremen. Sie arbeitete von 2012 bis 2013 als Beraterin für operative Exzellenz und Lean Management bei der Porsche Consulting. Promoviert hatte die Wirtschaftsingenieurin 2011 an der Universität St. Gallen, Schweiz, zum Management von Lieferketten.

Webseite mit Lebenslauf von Julia Arlinghaus, https://www.iff.fraunhofer.de/de/ueber-fraunhofer-iff/institutsleitung.html

Essential

Julia Arlinghaus betont, dass bereits beim Design von Lösungen für die Produktionsplanung menschliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen berücksichtigt werden sollten, um deren Akzeptanz zu erhöhen und um ressourcenintensive Fehlsteuerungen zu vermeiden. Unter anderem müsse akzeptiert werden, dass Menschen gerne selbst entscheiden. Dies spiele beispielsweise bei Risikoentscheidungen in Lieferketten eine Rolle.

Der Einbezug von Wissenschaftlern mit pädagogischem, psychologischem oder sozialwissenschaftlichem Erfahrungshintergrund in das Systemdesign sei deshalb wichtig, um Systemfunktionalitäten besser auf Endnutzer abzustimmen. Arlinghaus schildert am Beispiel einer Produktionsanlage, wie mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes und Fuzzylogic das Erfahrungswissen von Experten für KI-gestützte vorausschauende Instandhaltung umgesetzt werden kann.

 

Die Erstellung von KI-Modellen sollte von ihrer Anwendung getrennt entwickelt werden, um die Anwendung dann möglichst fallspezifisch an die Produktionsanlage anpassen zu können. Sogenannte Guards können dann in den Anwendungen die Plausibilität von Sensordaten überprüfen und die Anpassung unterstützen. Auf diese Weise könnten auch dezentral organisierte Systeme mit lokalen Daten schneller Entscheidungen treffen. Schließlich könnten Produktionsplanung und -steuerung von energieintensiven Prozessen auf die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ausgerichtet werden, wobei KI-gestützt eine flexible Produktionsauslastung erreicht werden könne.

Wichtig sei die nachhaltige Pflege eines digitalen Zwillings. Die hänge vor allem davon ab, dass der Einsatz problemorientiert erfolge, sagt Arlinghaus. Nur digitale Projekte, die einen klaren Nutzen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schaffen könnten, würden unterstützt und gepflegt werden. Die Umsetzung von umfangreichen Digitalisierungsprojekten dauere jedoch immer einige Zeit. Unternehmen dürften dabei den richtigen Zeitpunkt für die Einführung eines Digitalisierungsprojekts nicht verpassen, warnt Arlinghaus. Mit Blick auf das Lieferkettengesetz sei außerdem zu erwarten, dass große Unternehmen bei der Umsetzung voranschreiten und Lieferanten, die keine Transparenz im gewünschten Maße liefern könnten, aus ihrem Portfolio ausschließen werden. Ein steigender CO2-Preis führt laut Arlinghaus im Moment noch nicht zu signifikant höheren Transportkosten. Weit größeren Einfluss auf die Konsumentenpreise könnte eine Rückkehr zu mehr lokaler oder regionaler Produktion haben. Das sei auf Effizienzverluste zurückzuführen, die bei einem Rückgang der internationalen Arbeitsteilung in den globalen Produktionsnetzwerken entstünden. KI-gestützte Anwendungen könnten durch das Erzeugen von erhöhter Transparenz von Materialflüssen und Lieferketten helfen, diese Effizienzverluste zu senken und die Kosten wieder zu reduzieren.

Auch könne der Einsatz von KI in Verbindung mit Sensornetzwerken das Erkennen von Schadensmustern in Produktionssystemen und Lieferketten verbessern, was deren Resilienz erhöht. Mit einem zusätzlichen digitalen Zwilling ließen sich Produktionsabläufe besser überwachen. So können zum Beispiel Brandursachen rascher entdeckt und präventiv vermieden werden. Die damit verbesserte Transparenz von Produktionsabläufen würde außerdem Versicherer dazu befähigen, Unternehmen beispielsweise gegen solche Ereignisse oder gegen Abbrüche von Lieferketten zu versichern. Schließlich könnten selbstheilende Lieferketten und Produktionsnetzwerke mit digitalen Zwillingen aufgebaut werden. Mithilfe von KI-gestütztem Process Mining ließen sich Plattformen aufsetzen, mit denen freie Kapazitäten in Unternehmen aufgedeckt werden. Diese könnten im Krisenfall auch Mitbewerbern zur Verfügung gestellt werden, was wiederum gemeinsamen Kunden nutzt und so die Resilienz des Gesamtsystems stärkt. Den Schlüssel für eine erfolgreiche Umsetzung solcher resilienzfördernden Netzwerke sieht Arlinghaus in der Bereitschaft von Unternehmen zur Kooperation und zu gegenseitigem Vertrauen.

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Interview

Den Widerspruch zwischen Effizienz, Flexibilität und Nachhaltigkeit auflösen

  • Sie haben früher für Porsche als Beraterin gearbeitet und heute befassen Sie sich mit der Frage, wie sich globale Produktionsnetzwerke gemeinsam mit Partnern in Entwicklungsländern so gestalten lassen, dass sie ökonomisch, ökologisch und sozial ausgewogen werden. Wie kam es dazu?
  • Julia Arlinghaus: Meine Studierenden an der Jacobs University Bremen haben mich mit diesen Fragen konfrontiert. Ich bin heute der Meinung, dass eine ökonomisch und ökologisch ausgewogene Gestaltung gemeinsamer Produktionsnetzwerke nicht nur den Entwicklungsländern hilft. Sie ist auch eine Chance für europäische Unternehmen, langfristig neue Partnerschaften aufzubauen und Absatzmärkte für ihre Hochtechnologieprodukte, beispielsweise auch im Bereich der Klimaschutztechnologien, zu generieren. Wenn wir es schaffen, die Akteure in den Entwicklungsländern zu gleichberechtigten Partnern bei der Produktion und Nutzung von Technologie zu machen, erhöhen wir durch das darauffolgende Angebot hochwertiger Ausbildungen und Arbeitsplätze auch das dortige Lebensniveau. Das ist eine echte Chance für die Armutsbekämpfung und zugleich die Erschließung neuer Märkte für die Unternehmen in Europa.1
  • Die Unternehmen sprechen gerne von einem menschenzentrierten Einsatz von KI. Wie würde denn beispielsweise eine menschenzentrierte Produktionsplanung aussehen?
  • Julia Arlinghaus: Die erfolgreiche Implementierung von KI und Industrie-4.0-Technologien in Unternehmen hängt von vielen Faktoren ab. Einer davon ist das Naturell des Menschen, das man dabei stets berücksichtigen muss. Zum Beispiel ist es eines unserer natürlichen Bedürfnisse, immer auch selbst entscheiden zu wollen. Das gilt auch für unsere Arbeit mit Technik. Beim Einsatz von KI ist es deshalb wichtig, problemgetriebene Lösungen voranzubringen und die Menschen mitzunehmen. Das schafft man besonders dann, wenn sie darin einen unmittelbaren Nutzen für sich selbst sehen. Um ein Beispiel zu geben: In meiner Forschung beschäftige ich mich unter anderem mit dem Thema Produktionsplanung und -steuerung. Vor einigen Jahren habe ich bei einem großen Stahlhersteller ein IT-System – ohne Künstliche Intelligenz – eingeführt. Es ging darum, die Planung zu verbessern und den Bestand zu reduzieren. Aber das Ergebnis war leider zunächst nicht gut.
  • Woran hat es bei der Umsetzung gehapert?
  • Julia Arlinghaus: Wir haben alles durchleuchtet und die Leute interviewt: Das System hat funktioniert, die Regeln funktionierten.2 Aber dann stellte sich heraus, dass die Mitarbeitenden selbstständig die Stammdaten ändern durften. Das System war noch ganz neu, die Termintreue war noch immer schlecht und die Person, die die Planung durchführte, hat diese Stammdaten immer dann geändert, wenn der Chef sie dazu aufgefordert hatte, irgendetwas, am besten schnell, zu machen, um die Ergebnisse zu verbessern. Aber durch dieses gut gemeinte Nachsteuern von bestimmten Kennzahlen wurde das System in eine negative Abwärtsspirale bewegt. Dieser Effekt ist in der Produktionsforschung seit etwa 40 Jahren als „Teufelskreis der Produktionssteuerung“ bekannt.3 Es stellte sich also heraus, dass weder das mathematische Herangehen noch die Aufbereitung in unserem Modell ursächlich waren, sondern dass es der Stress der Menschen war, vor dem Eindruck negativer Zahlen eine Entscheidung treffen zu müssen.
  • Wurden also die Zielwerte an die schlechten Istwerte angepasst, damit alles wieder gut aussah, oder wie darf man sich das vorstellen?
  • Julia Arlinghaus: Ein Auftrag in dieser Stahlfertigung braucht etwa zwei, drei Monate, bis er fertig ist. Das heißt, wenn ich in den Stammdaten heute eine Veränderung vornehme, muss ich mindestens so lange warten, bis einige Aufträge das System mit den neuen Einstellungen durchlaufen haben, bis ich sehen kann, ob sich die Termintreue zum Kunden verändert hat. Aber mit dem neuen IT-System wollte man sofort Erfolge sehen. Das war zwar gut gemeint, aber man hätte in diesem Fall besser einfach nur warten und nichts tun müssen.
  • Das war also übersteuert?
  • Julia Arlinghaus: Ja, genau. Das war, wie wenn man die Heizung zu sehr aufdreht. Dann ist es auf einmal zu heiß, dann reißt man das Fenster wieder auf und es wird wieder kalt. Das ist so ein Phänomen der Regelungstechnik. Damals wurde mir bewusst, dass wir zwar sozusagen "super mathematische Modelle bauen" können, wir können den idealen Wert und die besten Zeitpläne ausrechnen, aber wir müssen vor allem verstehen, wie Menschen handeln. Wir müssen unsere IT-Systeme so gestalten, dass die Menschen mit ihrer Hilfe die beste Entscheidung fällen können. Dieses Wissen ist in der Psychologie vorhanden, auch in der Ökonomie, aber wir haben es noch nicht in andere Bereiche wie etwa die Produktionsplanung übertragen. Was ich sagen will: Es gibt riesige Potenziale für Künstliche Intelligenz, aber wir müssen akzeptieren, dass Menschen auch gerne entscheiden und gerne gebraucht werden.4
  • Wie wichtig ist es also, Psychologen und Sozialwissenschaftler in Prozessoptimierungsprojekte einzubeziehen?
  • Julia Arlinghaus: Wir haben inzwischen hier am Fraunhofer IFF vermehrt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem pädagogischen, sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Erfahrungshintergrund eingestellt. Ihre Kompetenz ist besonders wichtig bei Projekten, bei denen Prozesse in Unternehmen ververändert werden, die auch deren Mitarbeitende stark betreffen. Die Kunden sind davon begeistert, weil das in den Projekten eine andere Sprache, einen anderen Fokus auf ihre Mitarbeitenden mit sich bringt. Und es erhöht die Akzeptanz der neuen Prozesse und letztlich die Effektivität. Diese Fachexpertise einbeziehen zu können, ist eine riesige Bereicherung.

Ich schließe mich auch selbst gar nicht aus, wenn es um das Bedürfnis nach Mitwirkung in Prozessen geht. Der sogenannte »Ikea-Effekt« etwa besagt, dass man Dinge, an denen man selbst noch Hand angelegt hat, höher wertschätzt als das, zu dem man selbst nichts beigetragen hat. Demnach bewertet etwa der Ikea-Käufer sein Regal grundsätzlich positiv, weil er oder sie es selbst zusammengebaut hat. Und der Produktionsplaner fühlt sich auch viel besser, wenn er oder sie nicht die von der KI vorgeschlagene Ideallösung benutzt, sondern wenn er nach Bauchgefühl, also aus seinem vorhandenen Erfahrungswissen heraus, noch ein wenig nachgesteuert hat. Wenn wir Methoden zur Prozessoptimierung einsetzen wollen, müssen wir also berücksichtigen, dass Menschen keine Maschinen sind und dass sie nicht im mathematischen Sinne rational entscheiden. Aber jetzt bin ich etwas vom Thema abgekommen.

  • 1) Bendul, J., Rosca, E. & Pivovarova, D. (2017): Sustainable Supply Chain Operations in Developing Countries: Supply Chain Archetypes for Bottom of the Pyramid. Journal of Cleaner Production, 162, S. 107 – 120. Bendul, J., Rosca, E. (2019): Inclusive Supply Chains: Sustainable Value Creation at the Base of the Pyramid for Mitigating Social Exclusion. Logistics Research (online first). https://www.bvl.de/misc/filePush.php?id=51200&name=10.23773_2019_10.pdf Rosca, E., Möllering, G., Rijal, A. & Bendul, J. C. (2019). Supply chain inclusion in base of the pyramid markets: a cluster analysis and implications for global supply chains. International Journal of Physical Distribution & Logistics Management, 49(5), S. 575 – 598. Rosca, E., Arnold, M. & Bendul, J. (2017): Business models for sustainable innovation – an empirical analysis of frugal products and services. Journal of Cleaner Production, 162, S. 133 – 145.
  • 2) Duffie, N., Bendul, J. & Knollmann, M. (2017): An analytical approach for improving due-date and lead-time dynamics in production systems. International Journal of Manufacturing Systems, 45, S. 273 – 285.
  • 3) Vgl. Mather, H., Plossl, G. (1978): Priority fixation versus throughput planning. Production and inventory management, Journal of the American Production and Inventory Control Society, 29(3), S. 27 – 51.
  • 4) Bendul, J., Zahner, M. (2020): The Influence of Cognitive Biases in Production Planning and Control: Considering the Human Factor for the Design of Decision Support Systems, in: Human-Computer Interaction. https://www.intechopen.com/books/human-4-0-from-biology-to-cybernetic/the-influence-of-cognitive-biases-in-production-planning-and-control-considering-the-human-factor-fo
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  • Eigentlich nicht. Spielt dieses Phänomen auch in anderen Bereichen eine Rolle?
  • Julia Arlinghaus: Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass sich das auch auf Risikoentscheidungen in Lieferketten auswirkt.5 Das ist der sogenannte Bullwhip-Effekt. Die Bullwhip ist eine Peitsche, die am Stiel einen kleinen Ausschlag hat und die sich bogenförmig bis zum Ende durchrollt. Dieser Peitschen-Effekt kommt in Lieferketten regelmäßig vor, was an unterschiedlichen Gebindegrößen liegt.
  • Können Sie das kurz beschreiben?
  • Julia Arlinghaus: Beispielsweise wird ein neues Getränk beworben und der Kunde kauft einen Sechserträger Pfirsich-Maracuja-Schorle. Weil an diesem Tag Radiowerbung war, kauft sich aus dem Stadtviertel jeder Dritte diese Schorle und der Einzelhändler sagt: Das läuft – ich bestelle für die nächste Woche mal vorsichtshalber das Sechsfache von der Menge, die ich heute verkauft habe. Dasselbe passiert in der ganzen Region und der Großhändler bestellt dann mit einem Sicherheitsbonus auch die sechsfache Menge dessen, was die Einzelhändler bei ihm bestellt haben. Die Bestellung geht an den Hersteller, der aufgrund dieser Riesenbestellung glaubt, seine Produktion auf die dreifache Menge des ursprünglich Geplanten umstellen zu müssen. Doch in der Woche darauf ist schlechtes Wetter, die Grillsaison ist zu Ende und alle Getränke sind ausgeliefert. Der Supermarkt hat das Regal voll. Aber weil die Kinder das Getränk nicht so lecker fanden, holen sich die Familien keinen Nachschub und alle Händler bleiben darauf sitzen. Am Ende läuft das Haltbarkeitsdatum ab. Hier könnte man mithilfe von Künstlicher Intelligenz und Big Data die Absatzprognosen verbessern, was global gesehen helfen würde, mit beschränkten Ressourcen besser zu wirtschaften.
  • Wie verbreitet ist dieser Peitschen-Effekt?
  • Julia Arlinghaus: So etwas gibt es immer wieder in der Getränkebranche, aber auch in vielen anderen Branchen, beispielsweise bei Auto- Ersatzteilen. Das wird einfach dadurch ausgelöst, dass ein Kunde ein Ersatzteil beim ersten Händler nicht bekommt und zum nächsten Händler fährt. Der erste Händler bestellt es aber trotzdem, um es am Lager zu haben. Die nächste Werkstatt hat es auch nicht und stößt ebenfalls einen Bestellvorgang an. Der Kunde will das Teil jedoch sofort und fährt deshalb am selben Tag noch zu einer dritten Werkstatt, die das Teil dann hat.

Berücksichtigung von Erfahrungen und Erwartungen beim System-Design

  • Wie könnte denn das Erfahrungswissen der menschlichen Entscheider der KI helfen?
  • Julia Arlinghaus: Das Fraunhofer IFF hat beispielsweise einen Kunden unterstützt, der mit Wirbelschichtanlagen unter anderem Granulate produziert. In den Wirbelkammern dieser Anlagen gibt es eine Düse, durch die ein Granulationskern eingebracht wird. Mit hoher Geschwindigkeit wird ein zweiter Stoff hinzugefügt, der sich um diesen Granulationskern anlagert. Es ist leider noch immer ein verbreitetes Problem dieser Anlagen, dass diese Düse in unregelmäßigen Abständen verstopft. Dabei kommt es zu ungeplanten Stillständen der Anlage und Produktverlusten. Konstruktionsbedingt ist die Düse im Betrieb aber kaum einsehbar, sodass man ihren Zustand nur schwer erkennen und kommende Verstopfungen nicht vorhersehen kann. Sensoren an der Düse konnten an der diskontinuierlich betriebenen Anlage bislang keine Verbesserung herbeiführen. Trat der Ausfall ein, musste man die gesamte Anlage ungeplant herunterfahren, die Düse durch Fachleute langwierig untersuchen und reinigen lassen. Ein künstliches neuronales Netz als rein digitale Lösung zum Prognostizieren der Ausfälle hat nicht die hinreichende Genauigkeit erzielt. Aus Sicht der KI waren dafür die begrenzte Zahl an Ausfällen und damit die kleine Basis aus möglichen Lernereignissen eine zu große Herausforderung.

Wir brachten deshalb ein klassisches künstliches neuronales Netz mit Fuzzylogic auf der Basis des Wissens der Fachleute für diese Anlage zusammen. Mit dieser Methode kann man qualitative Daten in Zahlen, Daten, Fakten umwandeln. Wir haben die historischen Sensor- und Zustandsdaten der Anlage mit entsprechend aufbereiteten Informationen aus Expertenbefragungen kombiniert und in das neuronale Netz eingegeben. Im Ergebnis ließen sich 98 Prozent aller Düsen-Verstopfungen mit einer Stunde Vorlauf vorhersagen. Das heißt, man konnte die Anlage ohne Produktverluste und mit weniger Zeitaufwand kontrolliert herunterfahren, die Düse reinigen und dann wieder hochfahren. Das ist ein schönes Beispiel, das zeigt, wie man Expertenwissen in KI-Lösungen einbringen kann.

  • Müssen beim Design von Systemen die Erwartungshaltungen der Nutzer einbezogen werden, damit die Systeme in der Praxis auch funktionieren?
  • Julia Arlinghaus: Ein sehr bekanntes Beispiel ist die sogenannte Prospect Theory ist von Daniel Kahneman6. Sie besagt, dass wir Menschen uns unterschiedlich verhalten, wenn es darum geht, ob wir etwas gewinnen oder verlieren. Wenn ich Ihnen beispielsweise sage, dass ich Ihnen 20 Euro schenke, weil wir so nett miteinander sprechen, aber dann fünf Minuten später sage, dass ich die 20 Euro doch lieber jemand anderem schenke, dann werden Sie sich tendenziell mehr ärgern, als Sie sich gefreut haben. Übertragen auf Produktion und Logistik kann das auch heißen, dass Menschen unterschiedliche Entscheidungen treffen, je nachdem, ob man beispielsweise die Lieferzeit oder Termintreue steigert oder senkt.

Es gibt eine Vielzahl solcher Effekte, die in der Psychologie gut beschrieben, aber noch nicht auf die Produktionswelt übertragen sind. Dazu gehört beispielsweise auch, dass Menschen dazu tendieren, Risiken immer komplett ausschließen zu wollen. Das kann bei der Planung einer Fabrik zu starken Kostensteigerungen führen, um Risiken komplett zu eliminieren, anstatt ein gewisses Maß an Risiko zuzulassen, das man dann beispielsweise versichern könnte. Der sogenannte Anker-Effekt kann Sie beeinflussen, wenn Sie eine Produktionsentscheidung treffen müssen. Dann orientieren Sie sich eher an einer Zahl, die Sie vielleicht in einem Flurgespräch gehört haben.

Dezentrale Entscheidungshelfer

  • Im Grunde sind das doch Unsicherheiten, die man im System-Design berücksichtigen müsste. Ginge das?
  • Julia Arlinghaus: Wir müssen zuallererst die Menschen dazu befähigen, mit diesen neuen Technologien zu arbeiten und nachvollziehen zu können, was da passiert. Darüber hinaus trennen wir schon im Vorfeld die Entwicklung eines KI-Modells von seiner Anwendung, damit diese Anwendung möglichst fallspezifisch sein kann. Denn die Anwendung muss mit dem realen Bild der Anlage zusammenpassen. Das Modell darf nicht veraltet sein, die Sensoren müssen funktionieren. Wir bauen daher als Teil unserer Sicherheitsbetrachtung in die Softwarearchitekturen sogenannte Guards ein, die die Plausibilität der Sensordaten überprüfen. Wichtig ist auch die Kenntnis, dass man solche Modelle nicht einfach von A nach B übertragen kann, sondern dass sie immer anwenderspezifisch sind.
  • So etwas gibt es ja schon länger bei IT-Sicherheitsanwendungen. Kann diese Vorgehensweise auch anderweitig angewendet werden, zum Beispiel zur Verbesserung der Effizienz oder Resilienz?
  • Julia Arlinghaus: Beispielsweise können heute autonome Systeme, also Roboter, Anlagen oder auch Produkte mit Sensorik, Kommunikationseinheiten und Künstlicher Intelligenz eigene Berechnungen mit lokalen Informationen durchführen und eigene Entscheidungen treffen.7 Hiermit lassen sich riesige Potenziale erschließen, denn häufig können mit den lokalen Daten dezentral schneller Entscheidungen getroffen werden, als wenn man die Daten sammelt und diese mit Zeitverzug zu einer zentralen Einheit sendet, um dort komplexe Optimierungsverfahren zu benutzen.
  • 5) Zahner, M., Zimmermann, M. & Arlinghaus, J. (2020): The Influence of Cognitive Biases on Supply Chain Risk Management in the Context of Digitalization Projects. 7th International Conference on Dynamics in Logistics. Bremen, February 12 – 14, 2020.
  • 6) Kahneman, D., Tversky, A. (1979): Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, Vol. 47(2), S. 263 – 291, https://www.uzh.ch/cmsssl/suz/dam/jcr:00000000-64a0-5b1c-0000-00003b7ec704/10.05-kahneman-tversky-79.pdf
  • 7) Bendul, J., Blunck, H. (2019): The Design Space of Production Planning and Control for Industry 4.0. Computers in Industry, 105, S. 260 – 272.
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  • Wie könnte sich die Produktionsplanung damit verändern?
  • Julia Arlinghaus: Die Berechnung der optimalen Produktions- und Logistikprozesse kann aufgrund der hohen Komplexität in Unternehmen manchmal zwei Tage dauern. Manche Unternehmen aktualisieren ihre Planung wegen der hohen Rechenzeit nur zweimal in der Woche. Wenn in der Zwischenzeit etwas passiert, beispielsweise wenn ein Lieferant nicht liefert oder eine Maschine defekt ist, dann wird der Plan hinfällig. Deswegen kann es sinnvoll sein, bestimmte Entscheidungen von den Objekten selbst lokal treffen zu lassen. Das kann ein dynamischer Roboter sein, der dann eigene Rechenkapazitäten braucht. Er prüft ständig, ob die Modelle noch aktuell sind. Hierin steckt ein riesiges Potenzial, wenn wir auf Basis lokaler Informationen entscheiden und diese beiden Ansätze zusammenbringen.

Kopplung von dezentraler flexibler Produktionssteuerung mit dezentraler Energieversorgung

  • Kann eine dezentrale flexible Produktion mit dezentralen Energiemodellen zusammengebracht werden?
  • Julia Arlinghaus: Erneuerbare Energien werden ja nicht unbedingt immer dann erzeugt, wenn sie gebraucht werden. Das ist oft ein Problem. Wir können jedoch schauen, ob wir unsere Produktionsplanung und -steuerung gerade von energieintensiven Prozessen auf die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ausrichten können.
  • Also von günstiger erneuerbarer Energie?
  • Julia Arlinghaus: Denkbar wäre es sogar, dass auf dem Fabrikgelände eine kleine Windkraftanlage stünde, die vielleicht einen Elektrolyseur hat, der Wasserstoff erzeugt, und sich dieser Wasserstoff dann leicht entkoppelt nutzen lässt.8 Da liegt die Zukunft. Solange wir es nicht schaffen, die Energietrassen etwa aus den großen Offshore-Windparks zur Versorgung anderer Regionen zu bauen, sollten wir ergänzend dezentrale Energieversorgung weiterdenken. Es liegt eine ungeheure Chance darin, wenn es gelingt, die Verbräuche in einer Fabrik an das volatile Angebot einer regionalen Photovoltaikoder Biogasanlage oder an ein Windrad anzupassen.9

Es gibt auch Beispiele aus dem Bereich der nicht erneuerbaren Energien. So haben wir mit Gießereien zusammengearbeitet, die unter Energieaspekten ihre Produktionsplanung mit Echtzeitdaten aus der Produktion optimiert haben. Die Gießerei hat Reinforcement-Learning-Methoden genutzt und mit Anlagendaten kombiniert, um die Produktionsauslastung größtmöglich zu flexibilisieren und den Energieeinsatz zu optimieren. In dem Fall konnte eine Energieeinsparung von bis zu 20 Prozent erreicht werden. Es gibt also auch in diesen klassischen Industrien mit dem Einsatz von KI extrem große Energieeinsparpotenziale.

Reduktion von Risiken in Produktionsabläufen

  • Welche Rolle könnte eine verbesserte Transparenz von Produktionsabläufen auch für die Resilienz in Unternehmen spielen?
  • Julia Arlinghaus: Als Studentin habe ich vor zwanzig Jahren noch gelernt, dass man den Abbruch einer Lieferkette nicht versichern kann. Das Schlimmste im Automobilbau ist der Stillstand des Montagebands. Heute suchen die Versicherer im Zuge der Digitalisierung nach neuen Geschäftsmodellen und sagen, dass sie sehr wohl eine Lieferketten-Unterbrechung auch in der Automobilindustrie versichern würden, wenn die Hersteller mehr Transparenz über aktuelle und vergangene Ereignisse in ihren Fabriken und Wertschöpfungsketten liefern würden.

Zu den häufigen Gründen für den Abbruch einer Lieferkette gehört beispielsweise noch immer, dass eine Fabrik durch einen Brand zerstört wird. Mithilfe von Sensorik und KI lässt sich schon heute vorhersagen, wann es zu einem Brand kommen könnte. Beispielsweise könnten Sensoren Stromflüsse überwachen und ein Not-Aus auslösen. Die Recycling- Industrie etwa ist im Moment nicht mehr versicherbar, weil es in den letzten Jahren so viele Brände gegeben hat.

Durch den Einsatz neuer Technologien könnten so bestimmte Branchen und Unternehmen wieder versicherbar werden. Man müsste in Echtzeit die Produktionsdaten analysieren und Abweichungen vom Regelbetrieb detektieren, sodass bei ungewöhnlichen Temperaturerhöhungen oder einem drohenden Kurzschluss jemand rechtzeitig die Anlage überprüfen kann. Dazu muss man auch die Daten für spätere Analysen abspeichern, aber vor allem muss man eine solche Lösung in den Realbetrieb bekommen.

  • Könnte man die Resilienz der Unternehmen auch mit einem digitalen Zwilling steigern?
  • Julia Arlinghaus: Der digitale Zwilling spielt dabei insofern eine wichtige Rolle, als dass er das digitale Abbild von der Realität ist, welches sich mit einer Vorgabe wie etwa einer CAD-Zeichnung sowie Zielvorgaben vergleichen lässt. Beispielsweise nutzen wir den digitalen Zwilling von komplexen Bauteilen wie etwa Turbinenteilen dafür, ein aus Tausenden Einzelteilen montiertes Produkt auf Vollständigkeit und Qualität zu überprüfen. Sind alle Teile da? Sitzt alles an der richtigen Stelle? Aber Unternehmen können digitale Zwillinge auch von Anlagen und von ganzen Lieferketten nutzen, um Zukunftsszenarien zu entwickeln. So lässt sich mithilfe von Simulationen überprüfen, wie die Veränderung einzelner Parameter, bspw. des Einspritzdrucks oder des Lagerbestands, die Leistungsparameter verändert. So könnten Unternehmen ihr Handeln absichern und sich bei kritischen Entscheidungen helfen lassen.

Nachhaltige Pflege von digitalen Zwillingen

Es ist aber sehr wichtig, dass diese digitalen Zwillinge „leben“. Häufig ist es so, dass das digitale Modell nach der Erstentwicklung nicht mehr weiter gepflegt wird und beispielsweise eine digitale Zeichnung irgendwann nur noch einen veralteten Stand abbildet. Natürlich erfordert die Einrichtung eines digitalen Zwillings, den man am Leben halten will, Aufwand und bindet Ressourcen. Aber der Aufwand lohnt sich.

  • Wie lassen sich denn KI-Modelle nachhaltig pflegen? Unsicherheiten in den Daten müssten ja auch rechtzeitig entdeckt werden können, um nachsteuern zu können.
  • Julia Arlinghaus: Das betrifft das schon angesprochene Problem der Motivation der Mitarbeitenden, mit digitalen Werkzeugen zu arbeiten und sie als Helfer zu betrachten. Wenn der Mehrwert deutlich wird, werden die Mitarbeitenden die Modelle auch pflegen. Der Schlüssel zu einer Lösung besteht darin, dass Digitalisierung, speziell KI-Lösungen, kein Selbstzweck ist. Wir digitalisieren nicht, um zu digitalisieren. Wir müssen problemorientiert an Lösungen herangehen. Das heißt, nur da, wo ich auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen klaren Nutzen schaffen kann, werden sie ein solches Projekt unterstützen. Wie bei jedem Veränderungsprojekt spielen meiner Erfahrung nach hier die Führungskräfte die zentrale Rolle. Wenn sie nicht überzeugt sind, ist das Projekt schnell zum Scheitern verurteilt.

Wenn man beispielsweise ein konkretes Problem lösen möchte, wie etwa ein Lager, das zu klein ist, überlegt man sich, ob man ein neues Lager baut oder Wege findet, die Bestände zu senken. Letzteres wäre aus meiner Sicht die bessere Herangehensweise. Beispielsweise könnte man mit Künstlicher Intelligenz die Absatzprognosen verbessern. Gleichwohl braucht diese Computerisierung, diese Transparenz, ihre Zeit. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Die Unternehmen müssen daher aufpassen, dass sie den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen.

  • Sie meinen, dass dann die Mitbewerber beispielsweise mithilfe von Digitalisierung schneller ihre Lager- und Transportkosten in den Griff bekommen?
  • Julia Arlinghaus: Das ist der eine Fall, dass die Mitbewerber effizienter werden. Das ist ein schleichender Prozess und man kann noch hoffen, dass die Unternehmen es rechtzeitig mitbekommen. Der andere Fall betrifft aber die Themen Nachhaltigkeit und Systemwandel. Denn mit Bezug auf Nachhaltigkeit ist es doch so: Ola Källenius, der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, hat kürzlich in einem Handelsblatt-Interview10 gesagt, dass Nachhaltigkeit zum Lieferantenkriterium werde.

Das heißt, die Themen Transparenz in der Lieferkette und Einsparung von CO2 werden die großen Unternehmen vorgeben. Sie haben sich ja alle mit Klimazielen regelrecht überschlagen. BP will 2050 klimaneutral sein, Unternehmen wie Bosch und andere waren es schon 2020. Das heißt, die großen Unternehmen werden die kleinen mitziehen. Sie wollen, dass Datenstandards benutzt, dass Bestellungen elektronisch übermittelt werden …

  • … um ihren CO2-Fußabdruck in den Griff zu bekommen.
  • Julia Arlinghaus: Ja, die großen Unternehmen müssen zukünftig aufgrund des Lieferkettengesetzes Transparenz schaffen und Verantwortung übernehmen. Sie werden entsprechende Vorgaben an ihre Lieferanten weitergeben. Das kann sich sehr negativ auswirken, wenn etwa ein Lieferant sagt, dass er keine Angaben zu den CO2-Emissionen in seiner Lieferkette machen kann. Dann ist dieser Lieferant einfach raus und dann ist es für Digitalisierungsmaßnahmen zu spät.
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Steigerung von Effizienz und Resilienz in Lieferketten

  • Im Moment halten Unternehmen Lagerbestände klein und setzen aus Kostengründen auf den Transport von Materialien und Gütern. Ein steigender CO2-Preis könnte dies verändern. Welche Rolle kann KI spielen, um mögliche Verluste zu minimieren?
  • Julia Arlinghaus: Unsere Lieferketten sind heute aus gutem Grund so, wie sie sind. Wir haben in verschiedenen Teilen der Welt konzentrierte Expertisen. Wir haben außerdem Skalen- und Kostenvorteile durch niedrige Löhne oder Energiekosten, aber auch durch geringe Transportkosten. Diese Transportkosten machen in vielen Branchen aber nur wenige Prozent der Gesamtkosten aus. Dies wird in der allgemeinen Wahrnehmung häufig unterschätzt. Solange die Unternehmen in Europa die besten Produkte zum niedrigsten Preis anbieten wollen, müssen sich Unternehmen dieser sehr komplexen globalen Strukturen bedienen. Langfristig wird es aber eher dazu kommen, dass Produktionsstätten näher an die Absatzmärkte verlagert werden – was aber nicht unbedingt zum Vorteil für Europa wäre. Operative Exzellenz und Effizienz der Prozesse sind aber untrennbar mit Digitalisierung verbunden. Beides bedingt sich gegenseitig. Nur effiziente Prozesse lassen sich sinnvoll digitalisieren. Digitalisierte und KI-gestützte Prozesse sind automatisch effizienter. So können wir auch weiterhin Wertschöpfung am Hochlohnstandort Deutschland und Europa betreiben.
  • Ein steigender CO2-Preis würde also an den Produktions- und Transportkosten nicht entscheidend etwas verändern?
  • Julia Arlinghaus: Im Moment haben vor allem staatliche Interventionen wie Zölle oder andere Restriktionen einen größeren Einfluss. Diese Eingriffe führen relativ schnell zu Veränderungen internationaler Lieferketten und damit auch zu Effizienzverlusten und Kostensteigerungen. Daneben ist die Frage entscheidend, ob der Konsument bereit wäre, für beispielsweise eine lokale oder regionale Produktion und die damit verbundenen höheren Kosten einen Aufschlag wie im Bionahrungsmittelbereich zu zahlen.

Wenn sich die politischen Rahmenbedingungen verändern und auch die CO2-Preise signifikant steigen und sich die Konsumentenerwartungen verändern, wird sich auch die Struktur der Wertschöpfungsketten verändern. Das könnte dann ganz unterschiedliche Folgen haben. Staatlicher Eingriff und Regulierung bedeuten aber immer Effizienzverluste, wie etwa der Handelsstreit zwischen den USA und China gezeigt hat. Künstliche Intelligenz könnte helfen, die Effizienzverluste, die durch einen Rückgang der internationalen Arbeitsteilung entstehen, auszugleichen. Wir können über Computerisierung zunächst Transparenz schaffen: Einzelne Produktionsschritte und Materialflüsse wären detailliert nachvollziehbar. Hier sind Process-Mining-Tools extrem hilfreich.11

  • Inwiefern?
  • Julia Arlinghaus: Transparenz ist Voraussetzung, um Verantwortung in den Lieferketten übernehmen zu können. Wir reden bei Lieferketten von Tausenden, wenn nicht gar Millionen Verbindungen. Um diese riesigen Datenmengen automatisiert auswerten zu können, brauchen wir IT-gestützte Lösungen. Das Lieferkettengesetz nimmt zumindest die großen Unternehmen in die Pflicht. Es verlangt von ihnen, dass sie über alle ihre Prozesse vollumfänglich im Bilde sind, bevor sie im nächsten Schritt die Verantwortung übernehmen können für das, was dort passiert. Und mit Transparenz können wir auch die Effizienz steigern. Beispielsweise können wir automatisiert Schadensmuster aufdecken. Ein Unternehmen könnte vielleicht erkennen, dass beim Umschlag im Hafen XY immer wieder eine Störung der Kühlkette auftritt. Über einen Sensor könnte der Lichteinfall im Container detektiert werden.

Selbstheilende Produktionsnetzwerke

  • Sie haben auch eine Vision von selbstheilenden Produktionsnetzwerken entwickelt. Wie funktioniert das?
  • Julia Arlinghaus: Es geht hierbei darum, die Mechanismen zur Selbstheilung schon im System zu hinterlegen. Man wartet also nicht auf eine Krise, um dann Lösungen zu suchen, sondern überlegt bereits im Vorfeld, wie sich die Lieferkette in einem solchen Fall heilen ließe. Der wirksamste, aber bisher am wenigsten genutzte Mechanismus sind die Kooperation und das Teilen von Ressourcen. Im Krisenfall kann es also Sinn machen, seinem Mitbewerber zu helfen, indem man Produktionskapazitäten übernimmt oder ihm finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Denn sollte die Fabrik des Mitbewerbers darniederliegen, kann auch der eigene Kunde möglicherweise nicht mehr produzieren, womit das Unternehmen nichts mehr verkaufen kann.

Im asiatischen Raum gibt es dafür einige positive Beispiele.13 Ich sehe da auch großes Potenzial für europäische Unternehmen, wenn man im Krisenfall Personal austauscht, wenn man Maschinenkapazitäten für den anderen vorhält. Das ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht auf jeden Fall ein Gewinn, aber es kann auch ebenso für das Unternehmen ein Gewinn sein.

  • Was könnte die europäischen Unternehmen dazu bewegen?
  • Julia Arlinghaus: Es gibt viele Beispiele, die zeigen, dass die enge Kooperation mit Kunden und Lieferanten, ja sogar mit der direkten Konkurrenz sinnvoll sein kann. So kann es in einem eng vernetzten Wertschöpfungsnetzwerk sehr sinnvoll sein, in einer Krise auch einem Lieferanten oder sogar Konkurrenten mit eigenem Personal oder dem eigenen Maschinenpark auszuhelfen.

Das geht aber nicht ohne Transparenz: Wenn ich nicht weiß, was in meiner Lieferkette stattfindet, dann kann ich dem anderen ja gar nicht sagen, was ich an freien Kapazitäten habe. Das andere Thema ist natürlich Vertrauen. Unternehmen müssen sich der Vorteile bewusst werden. Denn die beschriebenen Plattform-Konzepte gehen ja in die Richtung, Kapazitäten besser auszulasten. Und das ist ein Thema, das für die meisten Unternehmen auch in Europa von hoher Relevanz ist. Ein Beispiel dafür, dass das funktionieren kann, ist eine Plattform, die eine Gruppe ehemaliger Studierender von mir gegründet hat. Über diese Plattform können Bauunternehmen untereinander Baumaschinen austauschen. Mittels Künstlicher Intelligenz kann man dafür eigene freie Kapazitäten und Ähnlichkeiten zu anderen Unternehmen aufdecken – und das in großem Stil.

  • Das ist aber kein Selbstläufer.
  • Julia Arlinghaus: Dafür braucht es einzelne Akteure, die bereit sind, im Krisenfall die Koordination eines solchen Netzwerks zu übernehmen. In sehr großen Krisen könnten das auch Versicherer sein, die ein Interesse daran haben, dass der Schaden möglichst gering ausfällt. In jedem Fall muss diese koordinierende Stelle beurteilen können, was welche Maßnahme konkret bewirkt. Doch nur die wenigsten Unternehmen dürften im Moment wissen, was auf der siebten, achten Ebene – also bei Lieferanten des Lieferanten des Lieferanten und so weiter – in ihrer Lieferkette los ist.
  • 11)Zu Process Mining siehe Interview mit Janina Nakladal, Nachhaltigkeit in der unternehmerischen Prozessanalyse
  • 12) Brüning, M., Hartono, N. T. & Bendul, J. (2014): Collaborative Recovery from Supply Network Disruptions: A Multiple Case Study. Proceedings of XII. International Logistics and Supply Chain Congress. October 30 – 32, 2014, Istanbul, Turkey. Brüning, M., Buchholz, J. H. & Bendul, J. (2014): Transferability of Self-Healing Principles to the Recovery of Supply Network Disruptions. In: Proceedings of Robust Manufacturing Conference, July 7 – 9, 2014, Bremen, Germany. and Research Association, March 30 – April 1, 2015, Amsterdam, The Netherlands. Bendul, J., Brüning, M. (2017): Kooperatives Supply Chain Risikomanagement – Neue Wege für den Umgang mit existenzbedrohenden Supply Chain Störungen. Bremen: Jacobs University Bremen.
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Projekt

Projekt RELflex – flexible Produktionssteuerung mit erneuerbaren Energien

Künftig können Unternehmen, die Energie aus Sonne, Wind oder aus eigenen Produktionsresten erzeugen, als Prosumer aktiv im Energienetz agieren und damit helfen, dieses stabiler und sicherer zu gestalten. Im europäischen Projekt RELflex1 entwickeln das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF und die Hochschule Magdeburg-Stendal mit weiteren Partnern aus Deutschland und Polen Algorithmen und Methoden, Geschäftsmodelle und Anwendungen, um Flexibilitätsoptionen beim Betrieb von Dynamischen Energiemanagementsystemen (DEMS) in industriellen Prozessen optimal nutzen zu können.

Wie das Energiemanagement im Unternehmensalltag optimiert werden kann, untersuchen die Forscher gemeinsam mit einem Projektpartner, dem mittelständischen Betrieb aRTE Möbel GmbH in Magdeburg. Für die Herstellung ihrer Möbel nutzt die Tischlerei Ökostrom, den sie selbst erzeugt. Im Rahmen des Projekts ermitteln die Forscher mit Messgeräten in Echtzeit, wie viel Energie die hauseigene Photovoltaikanlage generiert und wie viel Strom die Produktion verbraucht. Ziel ist es, die Produktion auf die Energieerzeugung optimal abzustimmen, damit das Unternehmens Möbel anbieten kann, für die nicht nur das Holz, sondern auch der Strom ökologisch erzeugt wurde.

Dazu erstellen die Forscher mit dem ARIMA-Prognoseverfahren auf Basis der ermittelten Werte Vorhersagen für Last und Erzeugung: Wie viel Strom wird in den kommenden Tagen voraussichtlich erzeugt und wie viel Strom wird verbraucht, um Tische und Schränke herzustellen? Wie lässt sich die Produktion optimal steuern, um möglichst wenig Strom in das Netz einzuspeisen und den Selbstverbrauch zu steigern?

Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten: Zum einen kann die Produktion angepasst und ein Pufferspeicher eingebaut werden. Das bedeutet, dass auf Vorrat produziert wird, wenn viel Energie zur Verfügung steht, und dass die produzierten Teile gelagert werden. Zum anderen könnten die Mitarbeiter je nach Energielage flexibel arbeiten. Die Erforschung der Mitarbeiterakzeptanz für eine gewisse Flexibilität der Arbeitszeiten ist Teil des Projekts. Schließlich können Energiespeicher eingesetzt werden, die jedoch mit hohen Investitionskosten einhergehen.

Im Rahmen eines intelligenten Energiemanagementsystems werden für die flexible Produktionssteuerung komplexe Softwarewerkzeuge mit einem Decision-Tree-Algorithmus für die Steuerung und den Ausgleich der jeweiligen Lasten und der volatilen Energieerzeugung eingesetzt. Hiermit werden für die Mitarbeiter Empfehlungen erzeugt, um die Fertigungsprozesse entsprechend anzupassen. Damit kann das betriebsinterne Energiemanagement in das darüberliegende, übergeordnete intelligente Energienetz integriert werden. Das Unternehmen wird so Stabilisator und Lieferant eines Teils des Netzes und ist nicht nur Verbraucher. Ab Mai 2021 wird der Einsatz zweier Lithium-Ionen-Batterien getestet, um dem Betrieb noch mehr Flexibilität zu ermöglichen. Für die optimierte Steuerung der Batterie sollen Algorithmen angepasst werden.

Das Projekt RELflex hat eine Förderung im Rahmen der Initiative ERANet Smart Energy Systems erhalten. Diese wurde mit Mitteln aus dem europäischen Horizon-2020-Forschungs- und Innovationsprogramm gefördert. Das Projekt startete im Dezember 2018 und wird Ende November 2021 abgeschlossen sein.

  • 1) Projekt Renewable Energy and Load Flexibility in Industry (RELflex), http://relflex.eu/

Literatur

Zahner, M., Zimmermann, M. & Arlinghaus, J. (2020): The Influence of Cognitive Biases on Supply Chain Risk Management in the Context of Digitalization Projects. 7th International Conference on Dynamics in Logistics. Bremen, February 12 – 14, 2020.

Rosca, E., Möllering, G., Rijal, A. & Bendul, J. C. (2019): Supply chain inclusion in base of the pyramid markets: a cluster analysis and implications for global supply chains. International Journal of Physical Distribution & Logistics Management, 49(5), S. 575 – 598.

Bendul, J., Brüning, M. (2017): Kooperatives Supply Chain Risikomanagement Neue Wege für den Umgang mit existenzbedrohenden Supply Chain Störungen. Bremen: Jacobs University Bremen.

Bendul, J., Knollmann, M. (2015): The human factor in production planning and control: Considering human needs in computer aided decision-support systems. International Journal of Manufacturing Technology and Management, 30(5), S. 346 – 368.

Brüning, M., Hartono, N.T. & Bendul, J. (2014): Collaborative Recovery from Supply Network Disruptions: A Multiple Case Study. Proceedings of XII. International Logistics and Supply Chain Congress. October 30 – 31, 2014, Istanbul, Turkey.

Das Interview mit Julia Arlinghaus führte die Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragten Publikationsprojektes zum Thema „KI und Nachhaltigkeit“. Die vollständige Publikation steht als PDF zum Download zur Verfügung.