Gitta Kutyniok
Professorin für Mathematische Grundlagen der Künstlichen Intelligenz an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Die Netzwerkerin
„Wir stehen am Beginn der vierten industriellen Revolution und diese Entwicklung wird die gesamte Gesellschaft radikal verändern“, sagt Gitta Kutyniok. „Die Möglichkeiten der KI sind aber nicht unendlich. Damit wir sie zum Wohl des Menschen gestalten und nutzen können, müssen wir erst ihre Grenzen verstehen.“ Kutyniok selbst forscht unter anderem am „Recht auf Erklärbarkeit“ von KI, das sie unter anderem aus dem europäischen AI Act ableitet, und stellt diese dafür auf mathematische Füße. Und reiht in ihrem Lebenslauf ganz nebenbei einen Höhepunkt an den anderen.
„Ich lebe für die Wissenschaft“, sagt Kutyniok. „Forschung fasziniert mich und ist auch mein Hobby. Sie füllt mich ganz aus. Rückblickend muss ich aber sagen, dass mir Glück und etwas Zufall geholfen haben.“ Wie die Einladung an die US-amerikanische Elitehochschule Georgia Tech in Atlanta nach ihrer Promotion. Oder der für sie überraschende Ruf im Jahr 2020 an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Aber ist Glück nicht auch eine Art Lebenseinstellung? „Ich bin immer mit offenen Augen herumgegangen und habe Möglichkeiten ergriffen“, sagt sie. Das gilt auch ganz besonders in Bezug auf interessante Forschungsfragen.
Ein Aha-Effekt der jüngsten Zeit war eine Beobachtung zu bestimmten mathematischen Optimierungsproblemen im Feld der Künstlichen Intelligenz. Kutyniok war aufgefallen, dass sie sich nicht auf herkömmlichen Computern lösen lassen, dafür aber mithilfe innovativer Hardware wie Neuromorphisches Computing, Quantum Computing und Biocomputing.
Eine wichtige Erkenntnis, die die Lösung für ein anderes Problem aufzeigte: einen rapide steigenden Energieverbrauch von Rechenprozessoren weltweit. Kurzentschlossen gründete Kutyniok 2023 mit drei Kollegen in Dresden das Startup Ecologic Computing, das digitale Hardware durch innovative Hardware erweitert und hierfür eine passende Softwarelösung entwickelt. Win-win: Auf diesem Weg werden zuverlässigere Rechenergebnisse bei deutlich reduziertem Energiebedarf generiert.
Von der Universalwissenschaft bis zur Anwendung
Die Mathematik hat Gitta Kutyniok schon immer geliebt. Ihr Großvater war Schulleiter, ihre Mutter Lehrerin. Nach dem Abitur wollte sie sich in Detmold im Lehramtsstudium ihrer großen Leidenschaft Mathematik und auch der Musik widmen. Als allerdings eine chronische Sehnenscheidenentzündung das Musizieren verhinderte und so einen Teil der langgehegten Pläne torpedierte, schwenkte Kutyniok um. Sie studierte an der Universität Paderborn Mathematik und Informatik und machte in beiden Fächern das Diplom.
Die Mathematik faszinierte Gitta Kutyniok so sehr, dass sie sich mit der Universalwissenschaft zunächst noch tiefer befassen wollte. Nur um in ihrer Dissertation dann doch von einer Fragestellung der theoretischen Mathematik zu einer der mathematischen Signalverarbeitung zu wechseln. Eine intensive fachliche Betreuung war nach dem Themenwechsel allerdings nicht mehr gegeben: „Ich war relativ auf mich selbst gestellt. Das war nicht so erfreulich.“
Aus der Not machte sie eine Tugend: Mit den Arbeiten von Christopher Heil, einem Professor am Georgia Tech, war sie als Grundlage für ihre eigene Forschung bereits vertraut. Am Rande eines Workshops bat sie ihn, ihre Promotion zu begutachten. Er willigte ein und kam dann seinerseits auf Kutyniok zu. Nach der Promotion lud Heil sie als Assistant Professor ein. „Ich zweifelte erstmal, ob ich gleich eine Professur in den USA annehmen sollte, denn ich konnte damals noch nicht so gut Englisch“, sagt Kutyniok. „Das war ein Sprung ins kalte Wasser.“
As Fellow der Deutschen Forschungsgesellschaft wagte sie 2004 den großen Schritt. Mit Erfolg: Sie arbeitete an wellenförmigen Wavelets, mit denen Signale und Bilder komprimiert werden können, und entwickelte diese Methode zu sogenannten Shearlets weiter. „Diese etwas universellere Methodik konnte man für verschiedene Anwendungen nutzen“, erklärt sie: So lassen sich mit Shearlets etwa fehlende Bilddaten in der Magnetresonanztomographie (MRT) rekonstruieren. Sie unterstützen auch eine effizientere Bildverarbeitung.
Vorbilder und Netzwerke
Für die Mathematikerin war dies der erste große wissenschaftliche Durchbruch. „Plötzlich eröffneten sich viele Möglichkeiten“, erinnert sich Gitta Kutyniok. „Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen kennengelernt und angefangen, über gemeinsame Projekte ein starkes Netzwerk aufzubauen.“ An der Princeton University etwa arbeitete sie mit der Mathematikerin und Wavelet-Konstrukteurin Ingrid Daubechies eng zusammen. Dann folgte eine Kooperation mit dem Statistiker David Donoho in Stanford und Yale. Ein Traum für Kutyniok: „Ich wollte schon immer mit ihnen arbeiten, weil sie die gesamte Bandbreite von der Theorie bis zur Anwendung abdecken. Das hat mich fasziniert.“
Die Jahre an den Elite-Hochschulen lieferten viele weitere Kontakte, die als Mentorinnen und Mentoren, Forschungspartnerinnen und -partner, Freundinnen und Freunde für Kutynioks weiteres wissenschaftliches Leben entscheidend sein sollten. Besonders beeindruckte sie der hierarchie-übergreifende einfache Zugang: „Ich wurde sofort nett aufgenommen und konnte zu den Professorinnen und Professoren einfach ins Büro gehen. Es war eine fantastische Arbeitsumgebung. Das kannte ich aus Deutschland so nicht.“
Trotzdem stellte sich nie die Frage, ganz in den USA zu bleiben, obwohl Kutyniok als nächstes an die kalifornische Stanford University wechselte. Zu dem Zeitpunkt hatte sie aber bereits den Ruf für den Lehrstuhl Angewandte Analysis an der Universität Osnabrück in der Tasche. Sie ließ sich ein wenig Zeit, um dann im Jahr 2008 vor allem aus familiären Gründen zurückzukehren: „Ich bin Einzelkind und kümmere mich hier in Deutschland um meine Eltern.“
In Osnabrück fokussierte sie weiter auf das sogenannte Compressed Sensing. „Hier verfolgt man die Idee, mit mathematischen Methoden Daten effizient zu akquirieren“, erklärt sie. Drei Jahre später übernahm sie eine Einstein-Professur an der TU Berlin, die das Land Berlin für sie eingerichtet hatte. Noch ein Vorteil: Kutyniok war sofort in die Antragstellung für einen Exzellenz-Cluster von drei Berliner Unis eingebunden.
„Dort ist eine extrem gute und große Mathematik-Community“, sagt sie. Ein Grund, warum sie während ihrer Berliner Zeit mehrere Rufe an andere Universitäten wie die RWTH Aachen und die Johns Hopkins University in Baltimore ablehnte. Außerdem überzeugte sie das Bleibeangebot – mit einem intellektuellen Bonus. Sie konnte an einer weiteren Fakultät, der Informatik und Elektrotechnik, Promotionen betreuten. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie ihre eigene Forschung voranbringen konnte. „Es ging mir darum, die Informationstheorie als ein Teilgebiet der Elektrotechnik mit der Angewandten Mathematik zusammenzubringen“, sagt Kutyniok.
Radikaler Richtungswechsel mit KI
Noch ein weiteres Feld ließ sie nicht los. Mit künstlichen neuronalen Netzen hatte sie sich erstmals 2012 befasst. Diese hatten in kürzester Zeit das Gebiet der digitalen Bildverarbeitung völlig verändert: „Es gab eine unglaubliche Aufbruchsstimmung wegen dieser neuen Methoden“, erklärt Kutyniok. „Bei unseren klassischen Methoden in der Mathematik wussten wir dank der Fehlerschranken exakt, was passiert. Die neuen Methoden des maschinellen Lernens dagegen funktionierten sehr gut, aber wir wussten nicht, weshalb – und es gab keine Fehlerschranken.“ Eine Fehlerschranke ist eine Art Toleranzwert: Sie legt eine vereinbarte oder garantierte, zugelassene äußerste Abweichung von einem Sollwert fest.
Das sei aus Sicht der Mathematik sehr interessant gewesen, aber auch etwas erschreckend – Kutyniok stellte sich der Herausforderung. Formal bedeutete das, dass sie 2019 zusätzlich zum Einstein-Lehrstuhl einen Lehrstuhl für Maschinelles Lernen an der Universität Tromsø in der norwegischen Arktis akzeptierte. Für sich selbst traf sie eine „etwas radikale Entscheidung“, die sie heute als „eine meiner besten Entscheidungen“ bezeichnet: Sie beschloss, KI-Ergebnisse durch Mathematik in der Tiefe verstehen zu wollen. Konkret: Sie möchte unter anderem Fehlerschranken beweisen, um die Sicherheit in der Anwendung von KI zu erhöhen.
Zunächst verknüpfte sie traditionelle Methoden mit neuen KI-Methoden, etwa um Probleme in der medizinischen Bildverarbeitung von MRTs anzugehen. Dort wird Deep Learning eingesetzt, um Bildaufnahmen besser zu interpretieren, indem man fehlende Messwerte durch KI rekonstruiert. Der Arzt bräuchte in diesen Fällen einen Hinweis, wie sicher die Rekonstruktion der KI ist – bekommt diese aber noch nicht.
„Es wird wohl immer eine Zusammenarbeit zwischen Arzt und KI geben“, zeigt sich Gitta Kutyniok sicher. „Weil es in puncto Zuverlässigkeit der Rekonstruktion noch viele Probleme gibt, steckt dieser Bereich aber noch in den Kinderschuhen.“ Da das ultimative Ziel der perfekten Zuverlässigkeit nicht sehr realistisch ist, wünscht sich Kutyniok, die Ergebnisse erklärbar zu machen. Etwa dadurch, dass die KI angibt, aufgrund fehlender Trainingsdaten nur zu zehn Prozent sicher sein zu können.
Netzwerken in München
Seit ihrem ad-personam-Ruf auf den Bayerischen KI-Lehrstuhl im Jahr 2020, der durch die Hightech Agenda Bayern der Bayerischen Staatsregierung neu geschaffen wurde, hat Gitta Kutyniok einen weiteren Forschungsschwerpunkt in Robotik und Ethik. Dafür kooperiert sie eng mit Sami Haddadin, dem Direktor des Munich Institute of Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) an der TU München (TUM) innerhalb des Intelligent Robotics-Hub der Bayerischen KI-Landschaft. Um die interdisziplinäre Zusammenarbeit auch innerhalb der LMU auszuweiten, stieß sie Ende 2023 die Gründung des AI-HUB@LMU an, in dem jetzt 18 Fakultäten vertreten sind. Auch leitet sie gemeinsam mit dem Informatiker Stephan Günnemann (TUM) die Konrad Zuse School of Excellence in Reliable AI.
2023 wurde Gitta Kutyniok als Mitglied in die Arbeitsgruppe „Technologische Wegbereiter und Data Science“ der Plattform Lernende Systeme berufen. Dort tauscht sie sich interdisziplinär mit KI-ExpertInnen aus Wissenschaft und Wirtschaft aus und entwickelt Handlungsoptionen für eine verantwortungsvollen Einsatz von KI.
Aus all diesen Vernetzungen könnten ihrer Ansicht nach Großprojekte entstehen, die den gesellschaftlichen Wandel durch die KI begleiten. Wenn wir deren Limits besser verstehen: „Die KI ist eben keine eierlegende Wollmilchsau“, sagt Kutyniok trocken. Sie habe Grenzen, fügt sie noch an und zitiert hier ein allbekanntes Beispiel. In der KI-basierten Bildverarbeitung gebe es keine robusten Algorithmen, für die sich theoretische Garantien finden lassen: „Ein Grund, warum selbstfahrende Autos noch nicht so verlässlich sind, wie wir uns das wünschen würden.“