Wie Künstliche Intelligenz zu einer inklusiven Arbeitswelt beitragen kann

Ein Expertenbeitrag von Barbara Deml, Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation am KIT und Mitglied der Arbeitsgruppe Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion der Plattform Lernende Systeme

Rund 7,9 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen lebten 2020 in Deutschland. Ihre Integration in die Arbeitswelt ist nicht nur ethisch und rechtlich erforderlich, sondern angesichts des Fachkräftemangels auch wirtschaftlich unerlässlich. Künstliche Intelligenz (KI) kann Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben im Arbeitsalltag helfen. KI-Systeme können Kommunikation in Gebärdensprache übertragen, Menschen mit fehlenden oberen Gliedmaßen das Steuern des Cursors auf dem Bildschirm über Kopfbewegungen ermöglichen oder Texte in leichte Sprache übersetzen. Wie Inklusion mithilfe von KI-Technologie besser gelingt – und welche Hürden auf dem Weg zu überwinden sind, hat die Arbeitsgruppe Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion der Plattform Lernende Systeme untersucht.

Prof. Barbara Deml ist Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Mitglied der AG Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion der Plattform Lernende Systeme

Künstliche Intelligenz ist zunehmend in der Lage, menschenähnliche Intelligenz und Problemlösungsfähigkeiten zu simulieren, indem sie große Mengen von Daten analysiert, Muster erkennt und selbstständig Entscheidungen trifft. KI-Technologie hat Einzug in nahezu alle Branchen gehalten, von der Gesundheitsversorgung über die Finanzwelt bis hin zur Fertigung und Logistik.  Eine bislang noch eher weniger beachtete, aber wichtige Dimension des KI-Einsatzes in der Arbeitswelt ist die Förderung von Inklusion (siehe auch Shore et al., 2018; Steil et al., 2023). Inklusion wird in dem Beitrag sehr breit verstanden und bezieht sich auf die Schaffung von Arbeitsbedingungen und -möglichkeiten, die es Menschen unabhängig von ihren individuellen Merkmalen, Fähigkeiten oder Hintergründen ermöglichen, am Arbeitsleben teilzunehmen und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Dies schließt Menschen mit Behinderungen, ethnischen Minderheiten, unterschiedlichen Geschlechtern und sozialen Hintergründen ein.

Künstliche Intelligenz kann auf drei Ebenen ansetzen, um einen Beitrag für eine inklusivere Arbeitswelt zu leisten (Abb. 1): Die grundlegende Anforderung ist sicherlich, überhaupt Teilnahme und Zugänglichkeit am Arbeitsleben zu ermöglichen, indem physische Barrieren oder Kommunikationsbarrieren überwunden oder zumindest minimiert werden (Barrierefreie Arbeitsgestaltung). Das zweite Ziel ist die Schaffung einer Umgebung, in der alle Beschäftigten ihr volles berufliches Potenzial ausschöpfen können, indem sie die optimale Unterstützung und die besten Bedingungen für ihre individuellen körperlichen und mentalen Fähigkeiten erhalten (Personalisierte Arbeitsgestaltung). Den Rahmen dafür muss eine geeignete Strategie und Kultur setzen (Inklusive Personalpolitik).

Abb. 1: Künstliche Intelligenz kann auf drei Ebenen ansetzen, um einen Beitrag für eine inklusive Arbeitswelt zu leisten.

In der Praxis dienen viele KI-Anwendungen mehreren dieser Ziele und lassen sich nicht trennscharf einer Ebene zuordnen. Der Gestaltungsprozess im Unternehmen oder in der Organisation zielt darauf ab, die Bandbreite menschlicher Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bedürfnisse und Vorlieben berücksichtigen und steht damit auch in der Linie des sogenannten Design-für-Alle (Universal Design; Clarkson et al., 2013).

1. Zugänglichkeit durch barrierefreie Arbeitsgestaltung. Barrierefreie Arbeitsgestaltung bezieht sich auf das Konzept, Arbeitsumgebungen so zu gestalten, dass sie für alle Mitarbeiter physisch und kommunikativ zugänglich und nutzbar sind.

1.1 Überwindung physischer Barrieren. Durch intelligente automatische Türöffner oder adaptive Beleuchtungssysteme können Bedürfnisse von Mitarbeitern mit Behinderungen erfüllt und so ein gleichberechtigter physischer Zugang zum Arbeitsplatz ermöglicht werden. KI-gesteuerte Technologien können Mitarbeiter mit Behinderungen auch bei der physischen Interaktion mit Computern und elektronischen Geräten unterstützen. So ermöglicht zum Beispiel Tobii Dynavox Menschen mit schweren motorischen Behinderungen, einen Computer oder ein elektronisches Gerät allein mit ihren Blicken zu steuern. Durch das Ansehen von Symbolen oder Schaltflächen auf dem Bildschirm können sie auswählen, tippen und sogar Text eingeben.

1.2 Überwindung kommunikativer Barrieren. Neben der Überwindung physischer Barrieren spielen KI-gesteuerte Technologien eine besondere Rolle in der ergänzenden und ersetzenden Kommunikation (Augmentative and Alternative Communication, ACC), für die im Deutschen auch der Begriff Unterstützte Kommunikation gebräuchlich ist (Groß et al., 2023). Kommunikationstechnologien können eine automatisierte Umwandlung von geschriebener Information als künstliche Sprachausgabe oder als tastbare Braille-Zeile leisten. Umgekehrt können sie auch gesprochene Sprache verschriftlichen. Bekannte Beispiel stellen die Apps Voice Dream Reader oder Google Live Transcribe (Loizides et al., 2020) dar. So kann ein gehörloser oder schwerhöriger Mitarbeiter die App auf seinem Smartphone starten und die Umgebungssprache wird automatisch in Text umgewandelt. Dies ermöglicht eine nahtlose Teilnahme an Gesprächen und sozialen Aktivitäten. Die App unterstützt eine Vielzahl von Sprachen, was sie auch zu einem äußerst vielseitigen Werkzeug für Menschen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen macht. Diese sogenannten Text-to-Speech- und Speech-to-Text-Technologien erleichtern nicht nur die Kommunikation für Menschen mit Seh-, Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen, sondern ermöglichen auch Mitarbeitern mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder mit beschränkten Lese- und Verständnisfähigkeiten breiter am Berufsleben teilzuhaben. Es gibt auch bereits eine Reihe von Softwareprodukten, die schwierige oder komplexe Textinhalte in leichte Sprache übersetzen (Janokar et al., 2023).

2. Unterstützung durch personalisierte Arbeitsgestaltung. Personalisierte Arbeitsgestaltung bedeutet, Arbeitsbedingungen, -ressourcen und -angebote so anzupassen, dass alle Mitarbeitenden, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen oder Herausforderungen, im Idealfall gleiche Chancen und Unterstützung am Arbeitsplatz erhalten.

2.1 Unterstützung körperlicher Fähigkeiten. In einigen Arbeitsumgebungen kann KI-gesteuerte Robotik eingesetzt werden, um Mitarbeitenden mit physischen Beeinträchtigungen die Interaktion mit Werkzeugen oder das Bewegen in der Arbeitsumgebung zu erleichtern. Auch dieser Bereich wird aktuell intensiv beforscht. Hier ist zum Beispiel das von der Carl-Zeiss-Stiftung geförderte Projekt „JuBot – Jung bleiben mit Robotern“ zu nennen, in dem Roboter „zum überziehen“, sogenannte Exoskelette, entwickelt werden, die personalisierte, lernende Assistenz für die Alltagsbewältigung bieten. Auch erste kommerzielle Lösungen sind bereits verfügbar, wie das Exoskelett ReWalk das speziell für Menschen mit Querschnittslähmung entwickelt wurde (Awad et al., 2020). Es ermöglicht diesen Personen wieder aufzustehen, zu gehen und sich in aufrechter Position fortzubewegen. Diese Technologien unterstützen aber nicht nur Menschen mit Lähmungen oder neurologischen Verletzungen, sondern können auch eine sinnvolle ergonomische Unterstützung für alle Mitarbeitenden bieten, insbesondere in beruflichen Umgebungen, in denen körperliche Anstrengung und schwere Lasten auf der Tagesordnung stehen. EksoWorks bietet speziell entwickelte Exoskelette für Industrie- und Bauarbeiter an, um die Belastung der oberen Extremitäten und des Rückens zu verringern, schwere Lasten zu unterstützen und die Arbeitsleistung zu steigern, sodass Beschäftigte langfristig, gesund am Berufsleben teilhaben können (Sposito et al., 2019).

2.2 Unterstützung mentaler Fähigkeiten. Chatbots und KI-gesteuerte Mentoringsysteme können Beschäftigte bei Stressbewältigung oder Zeitmanagement unterstützen und so einen Beitrag für die berufliche Wiedereingliederung und die Bewältigung mentaler Gesundheitsprobleme leisten. Solche personalisierten, psychologischen Unterstützungs-Apps, die KI verwenden, sind zum Beispiel Woebot (Darcy et al., 2022) oder Wysa (D’Alfonso, 2020).

Darüber hinaus fördert auch die Personalisierung von Lern- und Schulungsprogrammen mithilfe von KI-Technologien die Inklusion am Arbeitsplatz. KI kann Lernprofile erstellen, die Informationen über Fähigkeiten, Kenntnisse, Lernstile und sogar individuelle Bedürfnisse enthalten. Dazu analysiert das KI-System Daten zu bisherigen Schulungsleistungen, beruflichen Zielen und Selbstbewertungen. Mit diesen Informationen kann die KI personalisierte Lernpfade für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter entwerfen. Beschäftigte mit unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus oder Lerngeschwindigkeiten erhalten somit Lernmaterialien und -aktivitäten, die genau zu ihrem Kenntnisstand passen. Zum Beispiel könnten weitere Übungen oder Erklärungen für diejenigen angeboten werden, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Darüber hinaus können KI-gesteuerte Lernplattformen die Zeitschienen für Schulungsprogramme an die Verfügbarkeit und den Zeitplan jedes Einzelnen anpassen. Dies ermöglicht es Mitarbeitenden, Weiterbildung flexibel in ihren Alltag zu integrieren, unabhängig von ihren beruflichen und persönlichen Verpflichtungen, wie zum Beispiel der Betreuung von Familienangehörigen. Kommerziell verfügbare Anwendungen sind hier zum Beispiel LinkedIn Learning (Healy et al., 2023), die Sprachlernplattform Duolingo (Shortt et al., 2023) oder Coursera, ein Unternehmen, das sich auf die Bereitstellung von Online-Weiterbildungskursen (Massive Open Online Courses, sog. Moocs) spezialisiert hat. Insgesamt kann die Integration von KI in Lern- und Schulungsprozesse die Inklusion am Arbeitsplatz stärken, indem sie sicherstellt, dass alle Beschäftigten die Bildungsressourcen und -möglichkeiten erhalten, die ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten am besten entsprechen.

Auch im Zusammenhang mit Assistenzsystemen kann KI zur Inklusion beitragen, wie in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt „SAM-KI – Selbstgesteuerte Assistenz für die manuelle Montage sowie Kommunikation und Interaktion“ gezeigt wird. Dieses System ermöglicht es dem Montagepersonal, fehlende oder fehlerhaft montierte Bauteile zu erkennen, was bei Produkten mit hoher Variantenvielfalt oder hohen Qualitätsanforderungen sowie bei häufigen Zwischenprüfungen von entscheidender Bedeutung ist. Um sicherzustellen, dass Beschäftigte mit verschiedenen Erfahrungshintergründen erfolgreich am Montageprozess teilnehmen können, adressiert das System adaptiv unterschiedliche Kompetenzniveaus.

Inklusive Personalpolitik. Die oben genannten Maßnahmen können nur erfolgreich sein, wenn sie strategisch im Unternehmen verankert sind. Auch im Bereich der Personalpolitik können KI-Technologien zu mehr Inklusion beitragen. KI kann eingesetzt werden, um Muster von Vorurteilen am Arbeitsplatz zu erkennen, indem es große Mengen von Daten analysiert. Es dient damit zur Vorhersage und Prävention von Diskriminierung. Konkret ist hier zum Beispiel das Recruiting und Talentmanagement zu nennen: KI kann bei der Personalauswahl eingesetzt werden, um Vorurteile in der Auswahl von Bewerbern zu reduzieren und eine vielfältige Belegschaft aufzubauen. Dies geschieht durch die Analyse von Bewerberdaten, um qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten zu identifizieren, unabhängig von deren persönlichen Merkmalen (Hunkenschroer & Luetge, 2022). Eine inklusive Personalpolitik ist nicht nur ein ethisches Gebot und eine soziale Verantwortung, sondern wird auch positive Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und -leistung haben. Sie ermöglicht es Unternehmen, eine positive Reputation als gerechter Arbeitgeber aufzubauen, von einer breiten Vielfalt an Talenten zu profitieren und damit auch dem Fachkräftemangel entgegenzutreten.

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz kann einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer inklusiveren Arbeitswelt leisten. Er wird aber nur erfolgreich sein, wenn die Technologie auf eine Vielfalt fördernde Arbeitskultur trifft, in der Führungskräfte, Schulungen und weitere organisatorische Maßnahmen Inklusion und Teilhabe ermöglichen.

Literatur

  • Awad, L. N., Esquenazi, A., Francisco, G.E. et al. (2020). The ReWalk ReStore™ soft robotic exosuit: a multi-site clinical trial of the safety, reliability, and feasibility of exosuit-augmented post-stroke gait rehabilitation. J NeuroEngineering Rehabil 17, 80, https://doi.org/10.1186/s12984-020-00702-5
  • D’Alfonso, S. (2020). AI in mental health. Current Opinion in Psychology, 36, 112-117, https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2020.04.005.
  • Clarkson, J., Coleman, R., Keates, S. & Lebbon, C. (2013). Inclusive Design. Design for the Whole Population. London: Springer.
  • Verfügbar unter: https://www.coursera.org (abgerufen am 26.09.2023).
  • Darcy, A., Beaudette, A., Chiauzzi, E., Daniels, J., Goodwin, K., Mariano, T. Y., Wicks, P. & Robinson, A. (2022). Anatomy of a Woebot® (WB001): agent guided CBT for women with postpartum depression, Expert Review of Medical Devices, 19:4, 287-301, https://doi.org/1080/17434440.2022.2075726
  • Groß, M., Wallhoff, F., Kappel, S., Hennig, B. (2023). Zukunft des Technikeinsatzes in der Hilfsmittelversorgung. In: Groß, M., Hennig, B., Kappel, S., Wallhoff, F. (eds) Assistive Technologien, technische Rehabilitation und Unterstützte Kommunikation. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64118-7_41
  • Healy, M., Cochrane, S., Grant, P.& Basson, M. (2023). LinkedIn as a pedagogical tool for careers and employability learning: a scoping review of the literature, Education + Training, 65(1),106-125. https://doi.org/10.1108/ET-01-2022-0004
  • Hunkenschroer, A.L. & Luetge, C. (2022). Ethics of AI-Enabled Recruiting and Selection: A Review and Research Agenda. J Bus Ethics 178, 977–1007. https://doi.org/10.1007/s10551-022-05049-6
  • Verfügbar unter: https://www.jubot.kit.edu (abgerufen am 26.09.2023).
  • Loizides, F., Basson, S., Kanevsky, D., Prilepova, O., Savla, S. & Zaraysky, S. (2020). Breaking Boundaries with Live Transcribe: Expanding Use Cases Beyond Standard Captioning Scenarios. The 22nd International ACM SIGACCESS Conference on Computers and Accessibility, 1-6, https://doi.org/10.1145/3373625.3417300
  • SAM-KI. Verfügbar unter: https://www.ifab.kit.edu/1399_2721.php (abgerufen am 26.09.2023).
  • Shore, L. M., Cleveland, J. N. & Sanchez, D. (2018). Inclusive workplaces: A review and model, Human Resource Management Review, 28(2), 176-189, https://doi.org/10.1016/j.hrmr.2017.07.003.
  • Shortt, M., Tilak, S., Kuznetcova, I., Martens, B. & Akinkuolie, B. (2023). Gamification in mobile-assisted language learning: a systematic review of Duolingo literature from public release of 2012 to early 2020, Computer Assisted Language Learning, 36(3), 517-554, https://doi.org/1080/09588221.2021.1933540
  • Sposito, M., Toxiri, S., Caldwell, D.G., Ortiz, J., De Momi, E. (2019). Towards Design Guidelines for Physical Interfaces on Industrial Exoskeletons: Overview on Evaluation Metrics. In: Carrozza, M., Micera, S., Pons, J. (eds) Wearable Robotics: Challenges and Trends. WeRob 2018. Biosystems & Biorobotics, vol 22. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-01887-0_33
  • Steil, J. J., Bullinger Hoffmann, A., André, E. et al. (2023). Mit KI zu mehr Teilhabe in der Arbeitswelt. Potenziale, Einsatzmöglichkeiten und Herausforderungen. Whitepaper aus der Plattform Lernende Systeme, München. https://doi.org/10.48669/pls_2023-4
  • Tobii Dynavox. Verfügbar unter: https://de.tobiidynavox.com (abgerufen am 26.09.2023).

Voice Dream Read. Verfügbar unter: https://www.voicedream.com (abgerufen am 26.09.2023).

Beitrag erschienen in:

Personalmagazin
Oktober 2023

Zurück