Sensitive Roboter: Wie die Zusammenarbeit in der Fabrik gelingt

Ein Expertenbeitrag von Nadine Reißner, Kuka Deutschland und Mitglied der Plattform Lernende Systeme

In Deutschland ist die klassische industrielle Automatisierung weit fortgeschritten. So waren im Jahr 2020 laut dem World Robotics Report 230.601 Industrieroboter im Einsatz. Die Bilder großer Fertigungsstraßen mit eingezäunten Robotern, wie sie sich zum Beispiel bei den großen Automobilherstellern finden, sind bekannt. Die Vorteile von Automatisierung durch Robotik sind offenkundig: eine höhere Qualität durch wiederholgenaue Präzision, die Möglichkeit der Produktion rund um die Uhr, sehr niedrige Fehlerquoten und das Übernehmen schwerer, eintöniger oder gefährlicher Arbeiten – um nur ein paar Vorzüge zu nennen. In den letzten Jahren entwickelte sich ein Trend hin zu einer neuen Art von Robotern: Sensitive Roboter, die auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) fähig sind, also der direkten Zusammenarbeit mit dem Menschen. Durch eine Vielzahl technischer Neuerungen können somit Roboter ohne abtrennende Schutzvorrichtungen direkt mit Menschen zusammenarbeiten. Das erfordert auch ein Umdenken in der Entwicklung der neuen Technologien: Der Mensch muss von Anfang an stärker berücksichtigt werden.

Nadine Reißner, Senior Analyst Social Impacts of Robotics bei KUKA Deutschland und Mitglied der Plattform Lernende Systeme

Doch nicht nur in der Industrie arbeiten Roboter und Menschen immer enger zusammen. Auch in der Medizin oder der Pflege wird der Einsatz MRK-fähiger Roboter diskutiert, um demographischen Effekten wie der Überalterung und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Durch Automatisierung und KI-Technologien kann zukünftig der Personalmangel sowohl in der Industrie als auch in anderen Bereichen gemindert werden. Ein wichtiger Treiber für diese Entwicklungen sind neue Technologien auf dem Markt, die die Eintrittsschwelle für Unternehmen herabsetzen: Sie ermögliche eine intuitivere Bedienung der Roboter. Spezielle Fachkenntnisse für den Umgang mit den Maschinen sind nicht mehr nötig. Stattdessen gewinnt gerade in diesen Einsatzgebieten der Robotik der Mensch als Nutzer immer größere Bedeutung in der Forschung.

Diese Erkenntnis hat sich im europäischen Robotik-Verband euRobotics in Form einer Arbeitsgruppe für ethische, rechtliche und sozio-ökonomische Auswirkungen institutionalisiert. Auf nationaler Ebene untersucht die Arbeitsgruppe „Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion“ der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiierten Plattform Lernende Systeme die Potenziale und Herausforderungen von KI-Systemen in der Arbeitswelt. In beiden Arbeitsgruppen ist das Ziel, die Auswirkungen der neuen technologischen Entwicklungen im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) und der KI zu untersuchen und Empfehlungen zu deren Gestaltung zu geben, so dass der Mensch profitiert. Diese Ansätze werden durch die Analyse psychologischer Faktoren konstruktiv ergänzt. Mit der Untersuchung von Variablen wie Technikakzeptanz, Vertrauen und Nutzungsabsicht soll eine effektivere Gestaltung von MMI möglich werden. Hierbei forscht der Automatisierungsspezialist KUKA unter anderem an den ethischen und psychosozialen Implikationen der Robotik, um die Interaktion von Mensch und Roboter zu verbessern.

Im BMBF-geförderten Projekt PeTRA wird beispielsweise ein sensitiver Roboter, wie er künftig auch in der Fabrik zum Einsatz kommen kann, für den Patiententransport entwickelt. Der Roboter kann zusätzlich auch Intralogistik-Aufgaben übernehmen und so Arbeitszeit des unterbesetzten Krankenhauspersonals freisetzen, welches dann mehr Zeit in die sozialen Aspekte von Pflege investieren kann. Im Vergleich zur traditionellen Industrieapplikation interagieren in diesem Szenario deutlich mehr Stakeholder mit dem Roboter: Pflegekräfte, Transportdienstleister und Patienten sind unmittelbare und zudem ungeschulte Nutzer des Systems. Zusätzlich trifft der Roboter während des Transports auch auf unbeteiligte Passanten, die ihm ohne vorherige Einweisung begegnen. Daher wird es umso wichtiger, alle Nutzer und ihre verschiedenen Interessen und Bedenken in die Entwicklungsprozesse einzubeziehen, um intuitive Lösungen zu entwickeln. Dazu wird im Projekt eine von KUKA entwickelte Richtlinie verwendet, die von der 360°-Stakeholder-Analyse zu Beginn über verschiedene Mock-Up-Tests bis zu Evaluierungen der Einzelsysteme direkt vor Ort alle Stakeholder einbezieht. Neben klassischen Workshops am Projektbeginn wurde eine videogestützte Patientenstudie durchgeführt, um Faktoren der Technikakzeptanz zu untersuchen. Mit fortschreitender Entwicklung des Systems, wurden anschließend vor Ort Evaluierungen mit dem Krankenhauspersonal durchgeführt, die mit qualitativen Methoden wie Beobachtungen und Interviews sowie verschiedenen Skalen zu Usability und User Experience analysiert wurden. Auf Basis dieser Ergebnisse wurden weitere Optimierungspotentiale herausgearbeitet, die wiederum in die nächsten Technologieentwicklungen einflossen. Ein solch sensitiver, intuitiv bedienbarer Roboter kann in naher Zukunft auch die Beschäftigten in der Industrieproduktion noch besser unterstützen.

Mit solchen verallgemeinerbaren Standards beschäftigt sich auch die Plattform Lernende Systeme, um Leitlinien für die Neujustierung der Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine zu gestalten. Im Fokus steht dabei die Gestaltung von Arbeitsprozessen, welche die Stärken der Menschen fördert und ihnen mit Hilfe von KI und Automatisierung den Arbeitsalltag erleichtert. Dazu wurden in der Arbeitsgruppe die zwölf Kriterien für die Mensch-Maschine-Interaktion bei KI (Huchler et al. 2020) mit Ansätzen für die menschengerechte Gestaltung in der Arbeitswelt entwickelt.

Ein Anwendungsszenario der Plattform Lernende Systeme zeigt, wie sensitive, intuitiv bedienbare Roboter in naher Zukunft die Beschäftigten in der Industrieproduktion unterstützen.

Die Kriterien im ersten Cluster Schutz des Einzelnen stellen Sicherheit und die Minimierung möglicher Risiken für den Nutzer in den Mittelpunkt. Die Förderung der Gesundheit von Beschäftigten spielt eine wichtige Rolle im Arbeits- und Gesundheitsschutz, um negative physische oder psychische Belastungen zu vermeiden. Im zweiten Cluster werden die zentralen Gestaltungsfelder definiert, die notwendig sind, um Verlässlichkeit der Systeme aufzubauen und Vertrauenswürdigkeit wie auch Akzeptanz gegenüber der KI zu manifestieren. Hierfür ist es unerlässlich, eine hohe Qualität der verfügbaren Daten sicherzustellen, dadurch werden Transparenz und Erklärbarkeit der Ergebnisse gewährleistet. Die bereits angesprochene sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine wird mit den Kriterien im dritten Cluster fokussiert. Bei Fragen zu Handlungsträgerschaft und Situationskontrolle wird deutlich, dass das Aufgabenprofil des Menschen zu dessen Kompetenzen passen muss. Das letzte Cluster zielt darauf, mit förderlichen Arbeitsbedingungen Beschäftigten Zugang zu neuen Aufgabenbereichen und mehr Autonomie zu geben und so deren Motivation zu steigern.

Zukunftstechnologien wie die Künstliche Intelligenz werden immer mehr in unser Leben Einzug halten – sei es in der Arbeitswelt oder im Privaten. Eine sinnvolle, motivierende und gesundheits- sowie persönlichkeitsfördernde Interaktion mit der Technologie ist dabei essenziell. Eine solch gelungene Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter zu fördern, ist daher das oberste Ziel der Forschung zu den ethischen und psychosozialen Implikationen von Künstlicher Intelligenz.

Gastkommentar erschienen in:

Handelsblatt JOURNAL
Dezember 2021

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