Kollege KI Wie Lernende Systeme den Arbeitsplatz von morgen verändern

Ein Expertenbeitrag von Andrea Stich und Norbert Huchler, Mitglieder der Plattform Lernende Systeme

Andrea Stich, Leiterin der Frontend Akademie, Infineon Technologies AG, Mitglied der Plattform Lernende Systeme

Künstliche Intelligenz (KI) hält Einzug in unsere Arbeitswelt und verändert diese schrittweise. Dabei eröffnen KI-Systeme allen Unternehmen neue Potenziale: KI-Technologie kann nicht nur Produktionsabläufe optimieren oder Prozesse der Sachbearbeitung, zum Beispiel der Auftragsabwicklung, verbessern, sondern ermöglicht auch neue zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Am Arbeitsplatz von morgen werden selbstlernende Roboter in der Produktion genauso wie intelligente Assistenzsysteme im Büro automatisierbare Tätigkeitsanteile übernehmen; seien es repetitive oder auch komplexe Aufgaben, zum Beispiel neue Zusammenhänge in einer großen Menge von Daten identifizieren und Folgeschritte initiieren. KI-Systeme werden entlasten, aber auch Prozesse anstoßen. Damit verändert sich die „Zusammenarbeit“ von Mensch und KI-System. Damit diese nachhaltig produktiv erfolgt, muss sie sich an den jeweiligen Stärken orientieren.

Norbert Huchler, Mitglied des Vorstands des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung München, Mitglied der Plattform Lernende Systeme

Bevor diese Vision jedoch Realität werden kann, müssen Unternehmen und Beschäftigte gemeinsam einige Herausforderungen meistern. Denn Künstliche Intelligenz ist eine Technologie mit besonderen Eigenschaften: Vor allem die Fähigkeit, daten- und informationsbasierte Entscheidungsempfehlungen zu treffen sowie sich selbsttätig weiterzuentwickeln, unterscheidet KI-Systeme von bisherigen technologischen Neuerungen. KI wird so in gewisser Weise zu einem eigenständigen Akteur. Damit sind besondere Herausforderungen verbunden. Denen zu begegnen bedeutet unter anderem, auf die folgenden Fragen Antworten zu finden: Wie muss die Schnittstelle zwischen Mensch und KI-System gestaltet werden? Welche neuen Kompetenzen benötigen die Beschäftigten für die zukünftige Zusammenarbeit mit den KI-Systemen? Und wie muss der Arbeitsplatz der Zukunft gestaltet werden, damit die Beschäftigten gesund, effizient und nachhaltig mit den jeweiligen KI-Systemen zusammenarbeiten können?

Wichtig für den Erfolg der industriellen KI in Deutschland ist, dass der in den USA und Europa in Fachkreisen bereits abklingende Hype rund um das Deep Learning aus Massendaten abgelöst wird durch eine pragmatische Sicht auf die nächste Welle des hybriden Wissenserwerbs auf der Basis der kombinierten Nutzung von symbolischen und numerischen neuronalen Verfahren. Nur so können gelernte Scheinkorrelationen durch symbolisch gespeichertes Kausalwissen als Unsinn zurückgewiesen und schwerwiegende Anwendungsfehler vermieden werden. Trotz aller bahnbrechenden Erfolge des datengetriebenen Lernens mit neuronalen Architekturen haben sich u.a. die mangelnde Robustheit und numerische Instabilität der Verfahren neben der Intransparenz und Erklärungsschwäche als Nachteile erwiesen, die durch die Kombination mit modellgetriebenen Ansätzen, wie sie durch digitale Zwillinge in Industrie 4.0 möglich werden, vermeidbar sind.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die industrielle KI die Speerspitze der nächsten Stufe von Industrie 4.0 bildet und in den nächsten 10 Jahren eine wichtige Säule zur Zukunft der Wertschöpfung in Deutschland bilden wird.

Wesentlich für den erfolgreichen Einsatz von KI im Unternehmen wird eine solide Vertrauensbasis der Beschäftigten gegenüber den „intelligenten“ Systemen sein. Bislang fehlt eine etablierte Praxis, weshalb viele Beschäftigte Vorbehalte gegenüber der neuen Technologie und ihrer Eigenschaften haben. Wie aktuelle Studien zeigen, befürchten über 70 Prozent der Befragten beispielsweise, von den KI-Systemen fremdgesteuert oder überwacht zu werden. Diese Problempunkte müssen Betriebe durch Transparenz, Partizipation und neue Orientierungsmaßstäbe für den Einsatz von KI-Systemen proaktiv angehen. So kann Vertrauen in die intelligenten Systeme entstehen.

Anforderungen an die Zusammenarbeit mit KI

Der zukünftige Arbeitsplatz, an dem Mensch und KI erfolgreich zusammenarbeiten können, sollte vier Anforderungen erfüllen:

  • Er muss die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und den Schutz ihrer Daten gewährleisten.
  • Die eingesetzten Systeme sollten transparent, erklärbar und dadurch vertrauenswürdig sein.
  • Die Arbeitsteilung zwischen Mensch und KI sollte den Handlungsspielraum des Menschen erhalten oder erweitern.
  • Der Arbeitsplatz soll reichhaltige Aufgaben und lernförderliche Arbeitsbedingungen ermöglichen.

Diese grundlegenden Anforderungen an einen erfolgreichen Einsatz von KI müssen natürlich ausdifferenziert und auf die konkreten Umstände und das jeweilige KI-System angepasst werden.

Change Management ist gefragt

Um KI-Systeme in Unternehmen erfolgreich einzuführen, braucht es zudem einen maßgeschneiderten Change-Management-Prozess, der unter anderem die genannten Kriterien mit den Beschäftigten, die am Arbeitsplatz von morgen mit den KI-Systemen kollaborieren sollen, diskutiert, diese adaptiert und deren Umsetzung aktiv begleitet.

Eine verbindliche, frühzeitige und kontinuierliche Einbindung der Beschäftigten und der Mitbestimmungsträger ist für das Gelingen dieses Prozesses unerlässlich. Wichtige Maßnahmen im KI-Change-Management hat die Arbeitsgruppe „Arbeit, Qualifikation, Mensch-Maschine- Interaktion“ der Plattform Lernende Systeme in ihrem Whitepaper „Einführung von KI-Systemen in Unternehmen“ dabei entlang von vier Phasen strukturiert: von der Zielsetzung und Folgenabschätzung, über die Planung und Gestaltung sowie die Vorbereitung und Implementierung bis hin zur Evaluation und kontinuierlichen Anpassung. Eine offene Kommunikation über die Potenziale der KI sowie die Anforderungen und Bedenken der Beschäftigten, wie auch eine begleitende Evaluation der Systeme entlang der getroffenen Vereinbarungen und letztlich eine Rückkopplung dieser Ergebnisse bilden zugleich eine Grundlage für kontinuierliche KI-Verbesserungs- und Innovationsprozesse.

Mitarbeitendenqualifiizierung als wesentlicher Baustein

Eine große Herausforderung auf dem Weg in das KI-Zeitalter und ein zentrales Element im Change-Management ist die frühzeitige Qualifizierung der Beschäftigten. KISysteme verändern die Arbeitsplätze in zahlreichen Berufen. Nicht nur in der Produktion, sondern vor allem auch in den klassischen Bürotätigkeiten werden KI-Systeme immer mehr Aufgaben übernehmen: durch die Automatisierung von (Geschäfts-)Prozessen, durch Datenanalysen, aber auch bei der Interaktion mit Kundinnen und Kunden, zum Beispiel in Form von Chat-Bots. Es kommt zu einer Neujustierung der Aufgabenteilung zwischen Mensch und Technik in der Arbeitswelt und damit auch zu einem neuen Arrangement von Kompetenzen.

Neben einem technisch-methodischen KI-Grundwissen darüber, wie KI prinzipiell funktioniert, was sie kann und was nicht, benötigen Beschäftigte für die Zusammenarbeit mit KI vermehrt auch sogenannte überfachliche (Meta-)Kompetenzen. Urteilsfähigkeit, Reflexions- und Problemlösungskompetenzen sowie ein erfahrungsbasiertes Gespür für die Technik und den Arbeitsgegenstand werden etwa im Umgang mit Entscheidungsempfehlungen durch ein KI-System relevant werden. Auf der Ebene der Grundkompetenzen verstärkt der Einsatz von KI also bestehende Anforderungen moderner Arbeit, wie den Umgang mit Komplexität bzw. mit komplexen soziotechnischen Arbeitssystemen. Dies trifft auch auf soziale Kompetenzen zu, wie situative und interdisziplinäre Kooperationsfähigkeit, welche bei flexibilisierter Arbeit in Teams und Netzwerken nötiger wird, oder auch Selbstmanagement, Eigenständigkeit und selbstgesteuertes Lernen für den erfolgreichen Umgang mit Veränderungen.

Um diese Kompetenzen anzupassen und im Arbeitsalltag weiterzuentwickeln, werden in Zukunft Unternehmen und Beschäftigten neue Technologien und Lernformate zur Verfügung stehen. Zum Beispiel können Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) Technologien es Beschäftigten ermöglichen, Lerninhalte interaktiv und situativ zu erfahren und dabei schwierige Arbeitsprozesse in realitätsnahen Szenarien zu trainieren. Durch den Einsatz von KI-Systemen in Verknüpfung mit AR und VR lassen sich Lerninhalte an den individuellen Lernfortschritt der oder des Lernenden anpassen, aber auch Arbeitsaufgaben in Echtzeit begleiten und wenn nötig anleiten.

KI-Arbeitsplatz als Lern- und Erfahrungsraum

Die nötigen Kompetenzen können nicht ohne Anbindung an konkrete Aufgaben und die eingesetzten KI-Systeme erworben werden, wobei VR/AR-Technologien unterstützen können. Entsprechend benötigt eine erfolgreiche Kompetenzvermittlung Gelegenheiten, um selbst Erfahrungen mit der KI zu machen. Der Arbeitsplatz wird in Zukunft noch mehr zum unmittelbaren und direkten Lern- und Erfahrungsraum werden.

Für den Kompetenzerwerb und die Weiterbildung ist neben den technischen und inhaltlichen Grundlagen ebenso eine Kultur der Offenheit und Transparenz notwendig: Unternehmen müssen die Kompetenzentwicklung durch lernförderliche Rahmenbedingungen gezielt unterstützen. Hierzu zählt insbesondere ein Führungsverständnis, das Offenheit für neue Entwicklungen fördert und Zeit für Weiterentwicklung gewährt. In diese Offenheit sollte auch eine positive Fehlerkultur hineinwirken, die die Beschäftigten ermutigt, eigenständig und kritisch gegenüber den eingesetzten KI-Systemen zu denken und zu handeln.

Der Sprung in das KI-Zeitalter wird für viele Unternehmen notwendig sein, um auch in Zukunft mit innovativen Produkten und Services an der Spitze des technologischen Fortschritts zu stehen. Um diesen Weg einzuschlagen, müssen Unternehmen die Einführung und die weitere Entwicklung von KI aktiv gestalten und dabei ihre Beschäftigten mitnehmen: Kriterien für die Gestaltung Lernender Systeme, Change-Management und Weiterbildung können nur mit Akzeptanz und Überzeugung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgreich sein. Am Arbeitsplatz von morgen sollte der „Kollege KI“ für die Beschäftigten kein Fremdkörper sein, sondern muss willkommene Entlastung und einen erkennbaren individuellen Mehrwert bieten: So wird der Weg in eine Zukunft mit KI erfolgreich gestaltet.

Gastkommentar erschienen in:

Handelsblatt JOURNAL
Juli 2021

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