KI bildet die Speerspitze der nächsten Stufe von Industrie 4.0

Ein Expertenbeitrag von Prof. Dr. Wolfgang Wahlster, Chefberater des DFKI und Mitglied des Lenkungskreises der Plattform Lernende Systeme

Wolfgang Wahlster (© Jim Rakete)

Eines der Anwendungsgebiete der KI, auf dem Deutschland gegenüber den USA und China noch einen Vorsprung von ca. 2 Jahren hat, ist die industrielle KI im Kontext von Industrie 4.0, der vierten industriellen Revolution, die ich zusammen mit den Kollegen Henning Kagermann und Wolf-Dieter Lukas vor 10 Jahren initiiert habe. Industrie 4.0 wurde weltweit zum Exportschlager und hat Deutschland als Leitanbieter zum innovativsten Fabrikausstatter der Welt gemacht. Nachdem die erste Welle der Digitalisierung der Produktion jetzt abgeschlossen ist und die meisten Fabrikdaten digital vorliegen, startet in der zweiten Halbzeit von Industrie 4.0 die nächste Welle der Digitalisierung, welche die maschinelle Analyse und die darauf aufbauende Aktionsplanung mithilfe der industriellen KI zum Ziel hat.

Es gilt also weiterhin „Stärken zu stärken“ und damit die Marke „Made in Germany“ mit sehr hochwertigen physischen Produkten zu verknüpfen. Diese werden mithilfe von KI fehlerfrei und ressourcenschonend gefertigt, aber setzen auch eingebettete KI für innovative Produktfunktionen und neue Dienste für den Kunden ein. In diesem B2B-Bereich konnte Deutschland bislang den Hyperscalern aus den USA und China Paroli bieten, da wir in Bezug auf technikwissenschaftliches Domänenwissen und das Know-How erstklassiger Fachkräfte im Produktionsumfeld immer noch einen Vorsprung haben. Im industriellen B2B-Umfeld gibt es etliche Anforderungen an KI-Technologien, die im B2C-Umfeld nicht oder weniger relevant sind:

  1. Mensch-zentrierte Interaktionsformen, da der Mensch in der Produktion weiterhin im Mittelpunkt steht
  2. Realzeitfähigkeit, um bei der Prozesssteuerung zu garantierende Latenzzeiten nicht zu überschreiten
  3. Ressourcenschonung, um Klimaschutzziele zu erreichen und Abfälle zu reduzieren
  4. Zertifizierung, um die Betriebssicherheit zu gewährleisten und Haftungsrisiken zu minimieren
  5. Standardisierung, um die Interoperabilität bei Normenkonformität weltweit zu garantieren
  6. Vertrauenswürdigkeit, um die Akzeptanz bei den Verantwortungsträgern zu gewährleisten
  7. Adaptivität, um die Wandlungsfähigkeit und die Migration von Bestandsanlagen zu unterstützen
  8. Resilienz, um auch bei temporären Störungen von Anlageteilen und Lieferketten weiter zu arbeiten
  9. Virtualisierbarkeit, um Cloud- und Edge-Computing sowie verteilte Datenplattformen zu ermöglichen
  10. Souveränität, um bei Zugangsengpässen wegen weltpolitischer Konflikte Ersatzlösungen zu haben

Wichtig für den Erfolg der industriellen KI in Deutschland ist, dass der in den USA und Europa in Fachkreisen bereits abklingende Hype rund um das Deep Learning aus Massendaten abgelöst wird durch eine pragmatische Sicht auf die nächste Welle des hybriden Wissenserwerbs auf der Basis der kombinierten Nutzung von symbolischen und numerischen neuronalen Verfahren. Nur so können gelernte Scheinkorrelationen durch symbolisch gespeichertes Kausalwissen als Unsinn zurückgewiesen und schwerwiegende Anwendungsfehler vermieden werden. Trotz aller bahnbrechenden Erfolge des datengetriebenen Lernens mit neuronalen Architekturen haben sich u.a. die mangelnde Robustheit und numerische Instabilität der Verfahren neben der Intransparenz und Erklärungsschwäche als Nachteile erwiesen, die durch die Kombination mit modellgetriebenen Ansätzen, wie sie durch digitale Zwillinge in Industrie 4.0 möglich werden, vermeidbar sind.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die industrielle KI die Speerspitze der nächsten Stufe von Industrie 4.0 bildet und in den nächsten 10 Jahren eine wichtige Säule zur Zukunft der Wertschöpfung in Deutschland bilden wird.

Gastkommentar erschienen in:

KI-Briefing
4. Mai 2021

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