"Guter Startpunkt"

Kristian Kersting ist ordentlicher Professor (W3) für Machine Learning (ML) am Fachbereich Informatik der TU Darmstadt, Deutschland. Er leitet das Labor für maschinelles Lernen und ist außerdem stellvertretender Direktor des Zentrums für Kognitionswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind statistische relationale Künstliche Intelligenz, probabilistische Programmierung und tiefes probabilistisches Lernen. Er ist Fellow der European Association for Artificial Intelligence (EurAI) für fundamentale Forschungsbeiträge zur Künstlichen Intelligenz und Mitglied der Arbeitsgruppe 1.

 

Herr Kersting, Deutschland blickt auf einige Jahrzehnte der Forschung in der KI zurück. Trotzdem scheinen die USA und China bei dem Thema weiter vorne zu stehen. Warum?

Kristian Kersting: KI ist in Deutschland en Vogue seit Anbeginn der KI-Zeit, aber es wurde nicht so recht wahrgenommen von Industrie, Politik oder anderen Forschungsdisziplinen. Deutschland ist heute auf vielen Gebieten der KI sehr gut vertreten. In der Forschung hier sitzen Top-Leute. Aktuell gibt es allerdings Durchbrüche vor allem in der Teildisziplin maschinelles Lernen, also bei lernfähigen Computerprogrammen, die sich durch Daten und Erfahrungen selbst verbessern, und da stehen andere Länder mehr im Fokus. Wenn Sie sich aber die Publikationen anschauen und woher die Technologien kommen, da sind viele der deutschen Kollegen involviert. Es ist nur die Frage, ob sie in Deutschland ansässig sind. KI ist etwas Globales – die Leute bewegen sich dahin, wo es für sie am spannendsten und besten ist. Die Früchte der deutschen Forschung finden sich überall in der Welt.

Wie kann Deutschland mehr KI-Experten gewinnen?

Es sollte vielleicht attraktiver gemacht werden für deutsche Talente, wieder zurückzukommen. Diese braucht man in der industriellen und in der akademischen Forschung. Chinesische und US-amerikanische Firmen zum Beispiel zahlen aber extrem hohe Gehälter. Vielleicht sollte man Grenzen abbauen und es jemandem aus der akademischen Forschung ermöglichen, für zwei Jahre beurlaubt für mehr Geld in ein Unternehmen zu gehen? Eine Idee ist auch eine duale Ausbildung auf Doktorandenebene. Firmen haben häufig spannende Forschungsfragen – das wissen sie nur manchmal nicht. Unternehmen würden darin investieren und bekämen dafür Zugang zu Premiumpersonal in der Forschung und später KI-Experten in der eigenen Firma.

Reichen die Rahmenbedingungen in der Praxis aus, um KI in Deutschland voranzubringen?

Wir brauchen ein insgesamt besseres Ökosystem. Dafür müssen wir auch die Rechenpower anfassen. Auf europäischer Ebene könnte man überlegen, eine Art CERN (Europäische Organisation für Kernforschung; Anm. d. Red.) für KI aufzubauen. KI-Zentren wären nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Firmen wichtig, die sich nicht gleich eigene Rechenkraft kaufen wollen, um bestimmte Probleme anzugehen. An physischen Standorten mit genügend Rechenkraft könnten sich Firmen einmieten und vor Ort austauschen, auch mit Forschern. Daraus könnte ein Momentum entstehen.

Was können Wirtschaft und Wissenschaft tun, um das vorhandene Potenzial in Deutschland zu nutzen?

Wir müssen uns nun gegenseitig unterstützen und Partnerschaften eingehen. Wir brauchen die Investitionen der Firmen, der Hochschulen und anderer Forschungseinrichtungen. Wir Forscher müssen unsere Themen anfassbar, begreifbar machen und die Firmen müssen verstehen, dass wir zwar Partnerschaften eingehen, aber dass sie auch selbst mehr investieren müssen, um das Potenzial, das wir in Deutschland haben, zu heben. Der Wille ist in einigen Firmen da. Bosch zum Beispiel investiert viel in KI oder auch Siemens. Aber im Unterschied zu anderen Nationen wie China oder den USA sind das andere Dimensionen. Das kann sich in Deutschland aber noch ändern.

Wie sieht es aus mit dem Transfer der Forschungsergebnisse in die Wirtschaft?

Wenn es um die Umsetzung geht, also in die Anwendung, müssen wir in Deutschland besser verstehen, dass KI kein Selbstläufer ist. KI ist nicht der eine Motor, den wir entwickeln und der überall angewendet werden kann. Wir erstellen Blaupausen für viele Fragestellungen wie Denken, Planen, Lernen, und bei jeder Aufgabe ist zu entscheiden, welchen Algorithmus man benutzt. Dafür braucht es Erfahrung.

Wo sind deutsche Unternehmen jetzt schon stark – als KI-Anwender oder Anbieter von Lösungen?

Wir haben vielversprechende Start-ups: Eines ist zum Beispiel DeepL, ein Anbieter von Übersetzungen, die besser sind als die von Google. Die Firma hat nur ein viel geringeres Finanzvolumen. Bei größeren Firmen haben zum Beispiel Unternehmen aus der Autoindustrie früh an das autonome Fahren gedacht, Deutschland hat dort die meisten Patente. Aber dann entstanden Lücken durch das tiefe Lernen, das viel Neues generiert hat, was in der deutschen Industrie nicht so ankam.

Wie kann die Industrie darauf aufbauen?

Der nächste Schritt wäre, die Daten nicht nur zu sammeln, sondern sie zu analysieren, so dass daraus Handlungsanweisungen entstehen. Für KI in der Medizin gibt es großes Potenzial in Deutschland, oder in dem tollen Gebiet der Industrieanlagen. Deutschland hat hier durch seine starke Sensorik einen Vorteil. Da können wir direkt den Transfer in die Industrie versuchen. Ich sehe das Ganze als einen 5.000-Meter-Lauf, weder als Spurt noch als Marathon mit langen Durststrecken. Und wir haben einen guten Startpunkt.

Geht die KI-Förderung der deutschen Politik in die richtige Richtung?

Ich bin froh, dass investiert wird. Mit dem Geld, das angedacht ist, kann man einiges bewegen. Aber KI ist nicht eine einmalige Investition, und dann ist alles gelöst. Die Investitionen müssen kontinuierlich sein. Wir müssen wahrscheinlich mit KI schon in der Schule anfangen und mögliche Ängste in der Bevölkerung abbauen. Da können wir noch von anderen Nationen lernen. Derzeit wird vor allem der Transfer forciert, also KI in der Medizin, KI in der Industrie etc. Das finde ich auf der einen Seite gut, das ist wichtig und spannend. Aber auf der anderen Seite sehe ich nicht, dass ausreichend in die Kern-KI-Forschung investiert wird. Für die aktuellen Durchbrüche im tiefen Lernen wurde viele Jahre lang Grundlagenforschung betrieben. Wir dürfen nicht verlangen, dass Forschung gleich Umsatz bringt, und sollten stärker in die nicht sofort anwendungsgebundene Forschung investieren. Denn keiner weiß, was der nächste Durchbruch sein wird.

China verfügt über riesige Mengen von Daten, mit denen Algorithmen lernen können. Dies ist ein gigantischer Wettbewerbsvorteil. Sind die strengeren europäischen Regeln im Umgang mit personenbezogenen

Da muss man in kurz- und langfristig unterteilen. Um schnell Gewinn zu generieren kann es ein Nachteil sein, dass wir nicht so einfach auf Datenberge zugreifen können. Aber der Mensch kann auch mit wenigen Beispielen gut generalisieren, um zum Beispiel Bilder von Hunden und Katzen zu unterscheiden. Also muss auch maschinelles Lernen mit weniger Daten möglich sein. Das nennt man die dritte Welle der KI, hier können Algorithmen mit uns Menschen kommunizieren und mit unvorhergesehenen Situationen umgehen. Daran arbeitet derzeit die Forschung. Wie löst eine Maschine komplexe Aufgaben, in der Unvorhergesehenes passieren kann? Nehmen Sie die Industrieproduktion, da ist nicht bekannt, welche Fehler auftreten können. Daher gibt es nur wenige Trainingsbeispiele für Algorithmen. Aber auch mit dieser Datengrundlage müssen wir es schaffen, Fehler zu vermeiden, die zu Fehlproduktionen führen. Sobald das möglich ist, werden Daten nicht mehr der große Wettbewerbsvorteil sein. Dann kann es zum Vorteil werden, Datenschutz und Privatsphäre zu gewährleisten.

Interview erschienen in:

Markets International
Oktober 2019

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