Ein Schengen-Raum für Daten

Ein Expertenbeitrag von Karl-Heinz Streibich, Plattform Lernende Systeme

Viele Start-Up-Gründer werden sich kaum daran erinnern können: Staus vor innereuropäischen Grenzübergängen, langwierige Fahrzeugkontrollen und Überprüfen der Reisepässe auf dem Weg ins Urlaubsdomizil. Seit 1997 die Schengener Abkommen in EU-Recht gegossen wurden, können sich die Menschen in Europa frei über Ländergrenzen hinweg bewegen.

Karl-Heinz Streibich (© Weedezign)

Für Daten gilt diese Reisefreiheit noch nicht. Die Grenzen, vor denen sich Innovatoren heute sehen, sind digitaler Natur: Künstliche Intelligenz (KI) bestimmt das Geschäft in der nächsten Phase der Digitalisierung. Um KI-basierte Geschäftsmodelle oder Services zu entwickeln, benötigen Unternehmen Daten aus verschiedenen Quellen. Eine Mobilitäts-App muss etwa auf Daten des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), Carsharing-Plattformen und zur Verkehrssituation auf den Straßen zugreifen, um ihrem Nutzer eine intelligente, sich dynamisch anpassende Routenempfehlung zu geben. Die wertvollen Informationen liegen verteilt bei verschiedenen Institutionen in Datensilos. Jeder hat Teile des Puzzles, doch keiner kann es zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Dazu ist der Austausch der Daten in Ökosystemen notwendig – der in Europa engen Restriktionen unterliegt. Andere Wirtschaftsräume sind weniger reguliert. B2C-Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon können große Mengen an Daten sammeln und verwerten – auch bei uns in Europa. Sie sind auch deshalb die Gewinner der ersten Halbzeit der Digitalisierung. Dieses Paradoxon müssen wir hinter uns lassen: dass bei uns vieles verboten und überreguliert ist, während die digitalen Champions mit unseren Daten Dinge tun, auf die wir wenig Einfluss haben.

Wir müssen aus der jetzigen Daten-Verklemmtheit herauskommen und eine neue Kultur des Teilens und der gemeinsamen Nutzung von Daten ermöglichen. Europäische B2B-Unternehmen haben die Industriedaten und das Knowhow in wichtigen industriellen Branchen. Diese müssen sie einander zugänglich machen. Akteure in einer Branche oder einem Anwendungsfeld müssen gezielt zusammenarbeiten, um gemeinsame Datenräume aufzubauen – zum Beispiel für das Gesundheitswesen oder intermodale Mobilität.

Wir brauchen einen Schengenraum für Daten – einen europaweiten offenen Datenraum, in dem Unternehmen ihre Daten vorwettbewerblich teilen können – bedenkenlos und nach unseren europäischen Rechts- und Wertemaßstäben. Dazu sollte der Datenraum auf einheitlichen europäischen Datenrichtlinien basieren, die sowohl Innovationsfähigkeit fördern als auch private Daten und geistiges Eigentum schützen. Wie bei seinem Schengener Vorbild müssen sich alle, die innerhalb Europas Daten speichern und verarbeiten, an diese Regeln halten. Die Datenstrategie und die Datenschutzgrundverordnung der EU-Kommission ist ein erster Schritt dazu.

Nun müssen bestehende rechtliche Rahmenbedingungen in Europa angepasst werden. Empfehlungen dazu gibt ein Bericht der KI-Plattform Lernende Systeme, die im Jahr 2017 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf Anregung von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften initiiert wurde. Die KI-Expertinnen und -Experten haben anhand konkreter Fallbeispiele und Handlungsoptionen aufgezeigt, wie Unternehmen KI-basierte Geschäftsmodelle entwickeln können – wenn sie die dafür erforderlichen Daten haben.

Die europäischen Regeln zum Datenschutz sichern einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten. Allerdings muss beobachtet werden, ob diese Gesetze datenbasierte Innovationen hemmen könnten.

Neue und bestehende digitale Geschäftsmodelle könnten mit einem aktualisierten Kartellrecht realisiert werden, etwa wenn in etablierten Märkten Wettbewerber kooperieren, um gemeinsam einen neuen digitalen Markt zu erschließen.

Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen müssen wir auch standardisierte Schnittstellen in Europa vorantreiben, die es erlauben, Daten flexibel zu übertragen. Verfahren zur Anonymisierung und Pseudonymisierung von Daten sowie andere Möglichkeiten der Cyber Security gilt es zu fördern, um den europäischen Datenraum sicher und vertrauenswürdig zu machen. Dazu zählt auch eine souveräne verlässliche Dateninfrastruktur für Europa, wie etwa mit Gaia-X in Deutschland geplant.

Dann können die europäischen Wertmaßstäbe, die wir an unsere Datenplattformen anlegen, auch zum Qualitätsstandard für Produkte und Geschäftsmodelle werden. Dann kann KI „made in Europe“ auf dem internationalen Parkett zum Erfolg werden. Mit dem Weißbuch zu KI-Regulierung, an dessen Vorbereitung Mitglieder der Plattform Lernende Systeme beteiligt waren, hat die EU-Kommission einen wichtigen Pflock eingeschlagen, um vertrauenswürdige KI-Systeme aus Europa zu fördern. Als Schengenraum für Daten, basierend auf einheitlichen KI- und Datenrichtlinien, hat Europa die Chance, die zweite Halbzeit der Digitalisierung zu gewinnen.

Expertenbeitrag erschienen in:

Neue Zürcher Zeitung
August 2020

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