3 Fragen an

Sören Kerner

Abteilungsleiter Automation und eingebettete Systeme beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML sowie Mitglied der Arbeitsgruppe Mobilität und intelligente Verkehrssysteme der Plattform Lernende Systeme.

3 Fragen an Sören Kerner

KI versus Corona: Wie Künstliche Intelligenz die Logistik resilienter macht

Toilettenpapier, Nudeln, Hefe – mit dem Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie fehlten plötzlich so manche Produkte in den Supermarktregalen. Folgenschwerer waren logistische Engpässe für Unternehmen, die durch verzögerte Lieferungen in ihrer Produktion ausgebremst wurden. Logistik ist ein hochkomplexes und vernetztes System, das heute innerbetrieblich und über Unternehmen hinweg immer noch zumeist manuell optimiert wird – und bei unvorhergesehenen Ereignissen rasch beeinträchtigt ist. Wie sich logistische Prozesse mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz optimieren lassen und welche Hürden dem aktuell noch im Weg stehen, erläutert Sören Kerner, Abteilungsleiter Automation und eingebettete Systeme beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Mobilität und intelligente Verkehrssysteme der Plattform Lernende Systeme.

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Die Corona-Pandemie stellt Logistik und Lieferverkehr vor große Herausforderungen. Wie kann Künstliche Intelligenz dabei unterstützen?

Sören Kerner: Das logistische Netz in Deutschland ist hoch optimiert, ebenso wie die Lagerhaltung und die Intralogistik. Erreicht wird dies auch heutzutage noch durch einen hohen manuellen Einsatz in der Planung. Gleichzeitig werden die Lieferketten zunehmend verzahnter, die Komplexität der Logistik steigt superexponentiell. Corona hat die Logistik mit dem Ausnahmezustand konfrontiert – die Rahmenbedingungen wurden durch das Marktverhalten quasi von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Hier hat sich die größte Schwäche der manuellen Optimierung gezeigt – die mangelnde Flexibilität. Ein anschauliches Beispiel, das jeden betroffen hat, ist Toilettenpapier. Das ist kein saisonaler Artikel. Durch die Corona-bedingten Hamsterkäufe hat sich die Nachfrage aber sprunghaft geändert, so dass Kunden über Wochen vor leeren Regalen standen und im Internet gleichzeitig Videos von Staplerfahrern in Lagern voller Toilettenpapier kursierten. Grund waren starre Lieferketten. Hier kann KI gezielt helfen, um Prozesse auf Knopfdruck und je nach Bedarf zu optimieren – bis hin zu autonomen, selbst-optimierenden Warenströmen.

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Warum eignet sich Logistik besonders für eine KI-basierte Optimierung?

Sören Kerner: Logistik ist hochkomplex, folgt aber sehr einfachen Regeln – ähnlich wie das Spiel Go. Dieses ist bekanntlich ein Paradebeispiel für den Einsatz von maschinellen Lernverfahren, mit denen „übermenschliche“ Ergebnisse erzielt werden. Die Komplexität entsteht in beiden Fällen aus der Vielfalt und Multimodalität der Entscheidungsoptionen zu jedem Zeitpunkt. In der Logistik gilt dies sowohl für Optimierungen von Supply Chain-Entscheidungen als auch für intralogistische Systeme. Es gibt aber auch Unterschiede: Go ist perfekt simulierbar. Dadurch können Künstliche Intelligenzen wie Alpha Go Zero hochskalierend gegen sich selbst trainieren und Unmengen von Daten zur Optimierung erzeugen. Logistische Systeme lassen sich zwar auch Event-diskret skalierbar simulieren. Jedoch geht beim Schritt vom strategischen Spiel zur Realität etwas verloren – das perfekte Modell. Daher ist die Forschung an der Modellierung logistischer Systeme eine entscheidende Voraussetzung für die Übertragbarkeit in die Praxis.

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Kann KI dazu beitragen, weltweite Warenströme künftig resilient zu gestalten?

Sören Kerner: Unbedingt! Die Wandelbarkeit, die KI für die Logistik verspricht, ist entscheidend für die Resilienz der Warenströme. Neben den algorithmischen Voraussetzungen für das Training von KI-Methoden sind jedoch noch weitere Hürden zu überwinden – etwa die Datentransparenz. Die Optimierung komplexer Warenströme mit einer Vielzahl beteiligter Unternehmen kann erfolgreich sein, wenn die KI auf Daten über Unternehmensgrenzen hinweg zugreifen kann. Die vom Fraunhofer IML gestartete Initiative Silicon Economy hat sich das Ziel gesetzt, in den kommenden Jahren im Schulterschluss von Forschung und Industrie ein B2B-KI-Ökosystem zu schaffen. Basierend auf Geschäftsmodellen einer Plattformökonomie in Kombinationen mit einer sicheren und souveränen Kommunikationsinfrastruktur mittels Industrial Data Space und GAIA-X wird die Silicon Economy die freie Entfaltung von KI-Algorithmen in bisher nicht gekanntem Maße ermöglichen.

Bleibt noch die alles entscheidende Frage: das Vertrauen in die Algorithmen. Als AlphaGo das erste Mal gegen den weltweit stärksten Spieler Lee Sedol antrat, sorgte der 37. Zug des KI-Systems bei den Kommentatoren für Reaktionen, die von Erstaunen bis Belustigung reichten. AlphaGo schien – nach menschlichem Verständnis – einen katastrophalen Fehlzug gemacht zu haben. Nachträgliche Analysen zeigten aber, dass gerade dieser Zug der Grundstein für den Sieg von AlphaGo in dieser Partie war. Logistik ist eine eher konservative Branche. Hier braucht es erst noch Überzeugungsarbeit, durch KI-Optimierung das Heft des Handelns aus der Hand zu geben. Die Initiative Silicon Economy wird den Grundstein legen, doch bedarf es seitens der Industrie auch Mut.

Wie eine KI-gestützte Logistik in Zukunft aussehen könnte, zeigt das von der Plattform Lernende Systeme entwickelte Anwendungsszenario Intelligent vernetzt unterwegs.

Das Interview ist für eine redaktionelle Verwendung freigegeben (bei Nennung der Quelle © Plattform Lernende Systeme).

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